Выбрать главу

Eine Veränderung gab es doch: Liesel eröffnete ihrem Papa, dass sie nun alt genug war, um allein mit ihren Albträumen fertig zu werden. Eine Sekunde lang wirkte er gekränkt, aber wie immer fand er auch diesmal die richtigen Worte.

»Na, Gott sei Dank.« Er grinste schief. »Wenigstens bekomme ich jetzt wieder etwas mehr Schlaf. Der Stuhl hätte mich beinahe umgebracht.« Er legte den Arm um das Mädchen, und gemeinsam gingen sie in die Küche.

Mit der Zeit entwickelte sich eine klare Trennlinie zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten – der Welt innerhalb der Himmelstraße 33 und der Welt, die sich vor der Haustür weiterdrehte. Die Kunst bestand darin, beide auseinanderzuhalten.

Liesel lernte, sich die Außenwelt auf völlig neue Art und Weise nutzbar zu machen. Eines Nachmittags, als sie mit dem leeren Wäschesack heimlief, bemerkte sie eine Zeitung, die aus einem Mülleimer ragte. Es war eine Ausgabe des Molchinger Abendblatts. Sie zog sie heraus und nahm sie mit. Zu Hause gab sie die Zeitung Max. »Ich dachte«, sagte sie, »Sie würden vielleicht gerne das Kreuzworträtsel lösen, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Max war dankbar für diese Geste, und um sich der Mühe wert zu erweisen, las er die Zeitung von vorne bis hinten durch und zeigte ihr ein paar Stunden später das Kreuzworträtsel, das er bis auf ein Wort gemeistert hatte.

»Siebzehn senkrecht«, sagte er. »Ich krieg’s einfach nicht raus.«

Im Februar 1941 bekam Liesel zu ihrem zwölften Geburtstag ein weiteres gebrauchtes Buch, worüber sie sich sehr freute. Es hieß Die Menschen aus Lehm und handelte von einem sonderbaren Vater und seinem ebenso sonderbaren Sohn. Sie umarmte Mama und Papa, während Max unbehaglich in der Ecke stand.

»Alles Gute zum Geburtstag.« Er lächelte schwach. Seine Hände waren in den Hosentaschen vergraben. »Ich wusste nicht, wann du Geburtstag hast, sonst hätte ich dir etwas geschenkt.« Eine glatte Lüge – er hatte nichts zu verschenken, außer vielleicht Mein Kampf, und eine derartige Propagandaschrift hätte er unter keinen Umständen einem jungen deutschen Mädchen in die Hand gegeben. Das wäre, als ob ein Lamm seinem Schlächter das Messer reichte.

Eine ungemütliche Stille folgte.

Sie hatte Mama und Papa umarmt.

Max sah so einsam aus.

Liesel schluckte.

Und sie ging zu ihm und umarmte ihn zum ersten Mal. »Danke, Max.«

Zuerst stand er einfach nur da, aber als sie ihn festhielt, hoben sich allmählich seine Hände und legten sich sanft auf ihre Schulterblätter.

Erst später sollte sie von dem hilflosen Ausdruck auf Max Vandenburgs Gesicht erfahren. Sie sollte ebenfalls herausfinden, dass er in diesem Moment beschloss, ihr etwas zurückzugeben. Ich stelle mir oft vor, wie er die ganze Nacht wach lag und überlegte, was er ihr wohl schenken könnte.

Das Geschenk wurde auf Papier gefertigt und eine Woche später überreicht.

Er brachte es ihr in den frühen Morgenstunden und kehrte dann die Zementstufen hinab in sein Refugium zurück, das er mittlerweile als Zuhause bezeichnete.

DAS BUCH AUS DEM KELLER

Eine Woche lang wurde Liesel aus dem Keller verbannt. Es waren immer Mama oder Papa, die Max das Essen brachten.

»Nein, Saumensch«, sagte Mama jedes Mal, wenn sie sich anbot zu gehen. Stets hörte sie eine neue Ausrede. »Wie wäre es, wenn du dich ausnahmsweise hier oben ein bisschen nützlich machen würdest? Zum Beispiel die Wäsche fertig bügeln? Glaubst du etwa, es sei anstrengend, sie durch die Stadt zu tragen? Dann bügle sie zur Abwechslung doch mal!« Wenn man eine spitze Zunge hat, kann man viel leichter im Geheimen etwas Nettes tun. Es klappte.

Während dieser Woche hatte Max eine Reihe von Seiten aus Mein Kampf ausgerissen und sie weiß gemalt. Er hatte sie mit Wäscheklammern auf einer Leine zum Trocknen aufgehängt, von einer Ecke des Kellers zur anderen. Als sie trocken waren, begann der schwierige Teil. Er hatte eine recht gute Ausbildung genossen, aber er war weder ein Schriftsteller noch ein Maler. Trotzdem formulierte er die Worte in seinem Kopf, bis er sie auswendig konnte. Erst dann fing er an, die Geschichte zu schreiben, auf Papier, das unter dem Druck der trocknenden Farbe Blasen geworfen hatte und wellig geworden war. Mit einem kleinen Pinsel und schwarzer Farbe ging er an die Arbeit.

Der Überstehmann

Er rechnete sich aus, dass er dreizehn Seiten brauchte, also malte er vierzig Seiten weiß an, weil er vermutete, dass er etwa doppelt so viele Schnitzer machen würde, wie ihm Seiten gelangen. Auf den Seiten des Molchinger Abendblatts fertigte er Entwürfe an und verbesserte so seinen ungeübten, ungelenken Malstil, bis er ein Niveau erreicht hatte, mit dem er leben konnte. Während er arbeitete, hörte er die geflüsterten Worte eines Mädchens. »Seine Haare«, sagte sie zu ihm, »sind wie Federn.«

Als er fertig war, stach er mit einem Messer Löcher in die Ränder der Seiten und band sie mit Schnur zusammen. Das Ergebnis war ein dreizehnseitiges Buch.

Ende Februar, als Liesel eines frühen Morgens erwachte, schob sich eine Gestalt in ihr Zimmer. Wie immer versuchte Max, sich wie ein schweigender Schatten zu bewegen.

Liesel, die mit den Augen die Dunkelheit absuchte, konnte nur spüren, dass der Mann sich näherte.

»Hallo?«

Keine Antwort.

Nichts außer den annähernd geräuschlosen Schritten, die auf ihr Bett zukamen. Ein leises Schaben, mit dem er die harten Seiten auf den Boden legte, neben ihre Socken. Eine Kante bog sich leicht nach unten, in eine Ritze zwischen den Bodendielen hinein.

»Hallo?«

Diesmal kam eine Antwort.

Sie wusste nicht genau, wo die Worte ihren Ursprung hatten. Wichtig war nur, dass sie ankamen. Sie rückten auf sie zu und knieten sich neben ihr Bett.

»Ein verspätetes Geburtstagsgeschenk. Schau es dir morgen früh an. Gute Nacht.«

Eine Zeit lang glitt sie in den Schlaf hinein und wieder heraus, war sich nicht sicher, ob sie nur geträumt hatte, dass Max bei ihr gewesen war.

Am Morgen, als sie erwachte und sich auf die Seite drehte, sah sie die Blätter auf dem Boden liegen. Sie griff nach unten und hob sie auf, lauschte dem Papier, das in ihren schläfrigen Händen kratzte.

Mein ganzes Leben lang hatte ich Angst vor Männern, die über mir standen …

Die Seiten, die sie umblätterte, waren laut, wie ein statisches Rauschen, das die Geschichte, die sie erzählten, umgab.

Drei Tage, so sagte man mir... und was sah ich, als ich aufwachte?

Unter den Worten lagen die ausgelöschten Seiten von Mein Kampf, keuchend, erstickend unter der Farbe, während sie umgewendet wurden.

Sie hat mir bewiesen, dass der beste Überstehmann, den ich je gekannt habe...

Liesel las und betrachtete Max Vandenburgs Geschenk drei Mal. Jedes Mal entdeckte sie einen neuen Pinselstrich. Danach kletterte sie, so leise sie konnte, aus dem Bett und ging in Mamas und Papas Zimmer. Der Platz neben dem Kamin war verlassen.

Als sie darüber nachdachte, erschien es ihr sogar passender – nein, vollkommen passend -, ihm dort zu danken, wo die Seiten entstanden waren.