Выбрать главу

Sie ging die Kellertreppe hinunter. Dort, an der Wand, sah sie ein gerahmtes Bild hängen, das nur in der Fantasie existierte – ein still gelächeltes Geheimnis.

Obwohl sie nur ein paar Meter gehen musste, war es ein weiter Weg zu der Anordnung von Lumpen und Farbeimern, die Max Vandenburg abschotteten. Sie schob die Tücher, die der Wand am nächsten waren, beiseite, bis sie durch einen schmalen Korridor ins Innere schauen konnte.

Das Erste, was sie von ihm sah, war seine Schulter. Durch die schmale Gasse hindurch schob sie langsam, verletzlich, ihre Hand, bis sie auf seiner Schulter zur Ruhe kam. Seine Kleidung war kühl. Er wachte nicht auf.

Sie fühlte seinen Atem, fühlte, wie sich seine Schulter sanft hob und senkte. Eine Weile betrachtete sie ihn. Dann setzte sie sich und lehnte sich zurück.

Schläfrige Luft schien ihr gefolgt zu sein.

An der Wand neben der Treppe standen die Skizzen und Worte, an denen er geübt hatte, in ihrer ganzen Pracht, zerklüftet, kindlich und liebevoll. Sie schauten zu, wie der versteckte Jude und das Mädchen schliefen, Hand an Schulter.

Sie atmeten. Deutsche und jüdische Lungen.

Neben der Wand lag Der Überstehmann, erstarrt und erfreut, wie ein herrliches Kitzeln an Liesel Memingers Füßen.

TEIL 5

DER PFEIFER

Es wirken mit:

ein treibendes Buch – Spieler – ein kleiner Geist – zwei

Haarschnitte – Rudis Jugend – Verlierer und Skizzen – ein

Pfeifer und ein Paar Schuhe – drei Dummheiten – und ein

ängstlicher Junge mit erfrorenen Beinen

DAS TREIBENDE BUCH (Teil 1)

Ein Buch trieb die Amper hinab.

Ein Junge sprang ins Wasser, watete darauf zu und packte es mit der rechten Hand. Er grinste.

Bis zur Hüfte stand er im eisigen Dezemberwasser.

»Wie wär’s mit einem Kuss, Saumensch?«, sagte er.

Die Luft war herrlich, lieblich, betäubend kalt, nicht zu vergessen den hämmernden Schmerz des Wassers, der sich von seinen Zehen bis zur Hüfte hinaufschob.

Wie wär’s mit einem Kuss?

Wie wär’s mit einem Kuss?

Armer Rudi.

EINE BEKANNTMACHUNG

Rudi Steiner verdiente es nicht,

auf diese Art und Weise zu sterben.

Vor euren Augen seht ihr die klatschnassen Buchseiten an seinen Fingern kleben. Ihr seht die zitternden blonden Haarfransen. Ihr vermutet, wie ich es getan hätte, dass Rudi noch am selben Tag an Unterkühlung sterben würde. Aber so war es nicht. Erinnerungen wie diese gemahnen mich daran, dass er das Schicksal nicht verdiente, das ihn zwei Jahre später ereilen sollte.

In vielerlei Hinsicht war es Diebstahl, einen Jungen wie Rudi mitzunehmen – ein solches Übermaß an Leben, so viel, wofür es sich zu leben lohnte -, aber aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass ihm der erschreckende Sturm, das Rumpeln und der geschwollene Himmel in jener Nacht, in der er starb, gut gefallen hätten. Er hätte geschrien, geweint, sich umgedreht und gelächelt, wenn er die Bücherdiebin auf Händen und Knien neben seinem entseelten Körper hätte sehen können. Er wäre froh gewesen zu erleben, wie sie seine staubigen, von Bomben zerfressenen Lippen küsste.

Ja, ich weiß es.

In der Dunkelheit meines finster schlagenden Herzens weiß ich es. Es hätte ihm bestimmt gefallen.

Seht ihr?

Selbst der Tod hat ein Herz.

DIE SPIELER (Ein Würfel mit sieben Seiten)

Natürlich bin ich gemein. Ich verderbe euch den Spaß und nehme das Ende vorweg, das Ende des gesamten Buches und besonders dieses Abschnitts. Ich habe euch zwei Ereignisse im Voraus verraten, weil ich nicht an Heimlichtuerei interessiert bin. Heimlichkeiten langweilen mich. Ich weiß, was passieren wird, und ihr auch. Es ist die Art und Weise, wie es passiert, die mich ärgert, verwirrt, fasziniert und erstaunt.

Es gibt viele Dinge zu bedenken.

Die Geschichte ist prallvoll.

Da gibt es zum Beispiel ein Buch mit dem Titel Der Pfeifer, über das wir unbedingt reden müssen, und auch über den Grund, warum es kurz vor Weihnachten 1941 in der Amper trieb. Damit sollten wir uns zuerst beschäftigen, meint ihr nicht auch?

Also abgemacht.

Das werden wir.

Mit Glücksspiel fing es an. Man setzt alles auf eine Karte und versteckt einen Juden, und so lebt man dann auch. Das sieht folgendermaßen aus:

DER HAARSCHNITT: MITTE APRIL 1941

Das Leben passte sich nun eilfertiger der Normalität an:

Hans und Rosa stritten sich im Wohnzimmer, wenn auch viel leiser als früher. Liesel blieb, wie immer, Zuschauerin.

Der Streit drehte sich um die vorangegangene Nacht, als Hans und Max gemeinsam mit Farbeimern, Worten und Lumpen im Keller gesessen hatten. Max hatte gefragt, ob Rosa ihm irgendwann einmal die Haare schneiden könnte. »Sie fallen mir in die Augen«, hatte er gesagt, woraufhin Hans erwidert hatte: »Ich werde sie mal fragen.«

Jetzt kramte Rosa in den Schubladen herum. Ihre Worte schob sie, mit dem Rest des Gerümpels in der Kommode, Papa entgegen. »Wo ist diese verdammte Schere?«

»Liegt sie denn nicht in der unteren Schublade?«

»Da habe ich schon gesucht.«

»Vielleicht hast du sie übersehen.«

»Glaubst du vielleicht, ich bin blind?« Sie hob ihren Kopf und bellte: »Liesel!«

»Ja?«

Hans duckte sich. »Verdammt nochmal, Frau, von deinem Geschrei wird man ja taub.«

»Halt’s Maul, Saukerl.« Rosa suchte und kramte weiter und fragte unterdessen das Mädchen: »Liesel, wo ist die Schere?« Aber Liesel wusste es auch nicht. »Saumensch, du bist aber auch zu gar nichts nutze!«

»Halt Liesel gefälligst da raus!«

Mehr Worte flogen hin und her, von der Frau mit den elastischen Haaren zu dem silberäugigen Mann und zurück, bis Rosa die Schublade mit einem Mal zudonnerte. »Wahrscheinlich würde ich ihm sowieso nur lauter Löcher ins Haar schneiden.«

»Löcher?« Zu diesem Zeitpunkt machte Papa den Eindruck, als wollte er sich am liebsten seine eigenen Haare ausreißen. Jetzt aber senkte er seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Es sieht ihn doch keiner!« Er wollte fortfahren, doch da tauchte die fedrige Gestalt von Max Vandenburg auf und blieb höflich und peinlich berührt im Türrahmen stehen. Max hatte seine eigene Schere dabei und trat vor, reichte sie weder Hans noch Rosa, sondern dem zwölfjährigen Mädchen. Er wählte die ruhigste Person im Zimmer. Sein Mund bebte eine Sekunde, ehe er fragte: »Würdest du?«

Liesel nahm die Schere und klappte sie auf. Sie war gleichermaßen glänzend und an einigen Stellen verrostet. Sie wandte sich zu Papa um, und als er nickte, folgte sie Max hinunter in den Keller.

Der Jude setzte sich auf einen Farbeimer. Ein kleines, farbbespritztes Tuch lag um seine Schultern. »Schneide so viele Löcher hinein, wie du willst«, sagte er zu ihr.

Papa stellte sich auf die Treppe.

Liesel hob die erste fedrige Strähne von Max Vandenburgs Haaren an.

Während sie hineinschnitt, wunderte sie sich über den Klang der Schere. Es war kein Schnappen, sondern das Knirschen des einen Metallarms über den anderen, während beide die Haarfasern durchtrennten.

Als sie fertig war, hier ein bisschen zu kurz, dort ein bisschen schief, ging sie mit dem abgeschnittenen Haar in der Hand nach oben und warf es in den Ofen. Sie zündete ein Streichholz an und schaute zu, wie der Haufen schrumpfte und in sich zusammensank. Orange und rot.

Wieder stand Max im Türrahmen, diesmal auf der obersten Stufe der Kellertreppe. »Danke, Liesel.« Seine Stimme war groß und rau, und in ihr versteckt lag ein Lächeln.