»Der Himmel ist heute blau, Max, und da oben hängt eine große, lang gezogene Wolke, die aussieht wie ein Seil. Am Ende hängt die Sonne wie ein gelbes Loch...«
Max war sich darüber im Klaren, dass nur ein Kind ihm einen solchen Wetterbericht geben konnte. An die Wand malte er ein langes, fest geknüpftes Seil mit einer daran herabhängenden Sonne, in die man gerne hineingesprungen wäre. Auf das Wolkenseil malte er zwei Gestalten – ein dünnes Mädchen und einen ausgemergelten Juden -, die mit weit ausgebreiteten Armen darauf balancierten und auf die purzelnde Sonne zugingen. Unter das Bild schrieb er einen Satz.
Es war Montag, und sie tanzten
auf einem Seil zur Sonne.
Max Vandenburg hatte den kühlen Zement und viel Zeit.
Minuten waren grausam.
Stunden eine Strafe.
Über ihm stand während aller wachen Momente die Hand der Zeit, und sie zögerte nicht, ihn gnadenlos auszuwringen. Sie lächelte und drückte und ließ ihn am Leben. Welch grenzenlose Boshaftigkeit in der Gnade des Überlebens liegen kann!
Wenigstens ein Mal am Tag kam Hans Hubermann in den Keller und führte ein Gespräch mit Max. Von Zeit zu Zeit brachte Rosa ihm eine übrig gebliebene Brotkruste. Aber es waren die Abschnitte des Tages, in denen Liesel ihn besuchte, in denen Max sein Interesse am Leben neu erwachen spürte. Anfänglich versuchte er, sich dem zu widersetzen, doch mit jedem Tag, an dem das Mädchen erschien, wurde es schwieriger. Jedes Mal brachte sie den Wetterbericht mit, der entweder von klarem, blauem Himmel kündete oder von kartonfarbenen Wolken oder einer Sonne, die durchgebrochen war, als hätte sich der Allmächtige höchstpersönlich nach einem schweren Essen darauf niedergelegt.
Wenn er alleine war, überkam ihn das Gefühl des Verschwindens. All seine Kleidung war grau – egal, ob dies ihre ursprüngliche Farbe gewesen war oder nicht -, angefangen von seinen Hosen über seinen Wollpullover zu der Jacke, die mittlerweile an ihm herabtropfte, als wäre sie aus Wasser. Er schaute oft nach, ob sich seine Haut in Flocken abschälte, weil er glaubte, sich aufzulösen.
Was er brauchte, war eine Reihe von Plänen, die er in die Tat umsetzen konnte. Er fing mit Übungen an, genauer gesagt mit Liegestützen. Er legte sich mit dem Bauch flach auf den kühlen Kellerboden und drückte sich dann empor. Er hatte den Eindruck, als würden seine Arme an den Ellbogen entzweibrechen, und er stellte sich vor, wie sein Herz aus ihm herausfloss und jämmerlich zu Boden troff. Als Jugendlicher in Stuttgart hatte er fünfzig Liegestütze hintereinander weg geschafft. Jetzt, im Alter von vierundzwanzig und etwa fünfzehn Pfund unter seinem üblichen Gewicht, brachte er kaum mehr zehn zustande. Nach einer Woche gelangen ihm drei Übungseinheiten mit je sechzehn Liegestützen und zweiundzwanzigmaligem Aufrichten aus der Rückenlage mit gestreckten Beinen in den Sitz. Wenn er damit fertig war, lehnte er sich neben seinen Farbtopffreunden an die Kellerwand und spürte seinen Puls gegen seine Zähne hämmern. Seine Muskeln fühlten sich an wie Sandkuchen.
Manchmal fragte er sich, ob diese Anstrengung überhaupt der Mühe wert war. Manchmal wiederum drehte er, wenn sich sein Herzschlag beruhigt und sein Körper wieder zu seiner normalen Funktion zurückgefunden hatte, die Lampe herunter und stand in der Dunkelheit des Kellers einfach nur da.
Er war vierundzwanzig, aber er besaß immer noch Vorstellungskraft.
»In der blauen Ecke«, kommentierte er leise, »haben wir den Weltmeister, den arischen Inbegriff – den Führer.« Er atmete und drehte sich um. »Und in der roten Ecke sehen wir den rattengesichtigen jüdischen Herausforderer – Max Vandenburg.«
Um ihn herum wurde alles zur Wirklichkeit.
Weißes Licht senkte sich zu einem Boxring herab, und eine Menge umringte ihn und murmelte – dieser magische Klang von vielen Menschen, die durcheinanderreden. Wie kam es, dass alle Leute dort gleichzeitig so viel zu sagen hatten? Der Ring selbst war tadellos. Eine tadellose Matte, herrliche Seile. Selbst die von den dicken Seilsträngen abstehenden Fasern waren tadellos und schimmerten im weißen Licht. Der Raum roch nach Zigaretten und Bier.
Diagonal ihm gegenüber stand Adolf Hitler in seiner Ecke, begleitet von seinem Gefolge. Seine Beine ragten aus einem rotweißen Mantel mit schwarzem Hakenkreuz, das auf dem Rücken eingebrannt war. Sein Schnurrbart wirkte wie angestrickt. Er flüsterte seinem Trainer Goebbels etwas zu. Er sprang von einem Fuß auf den anderen und lächelte. Er lächelte am lautesten, als der Ansager seine vielen Verdienste aufzählte, denen die bewundernde Menge lärmend applaudierte. »Ungeschlagen!«, verkündete der Ansager. »Sieger über zahlreiche Juden und andere Gefahren für das deutsche Volk! Herr Führer«, schloss er, »wir grüßen Sie!« Die Menge raste.
Als Nächstes, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, kam der Herausforderer.
Der Ansager wandte sich Max zu, der allein in der Ecke des Herausforderers stand. Kein Mantel. Kein Gefolge. Nur ein einsamer junger Jude mit Mundgeruch, einer nackten Brust und müden Händen und Füßen. Selbstverständlich waren seine kurzen Hosen grau. Auch er bewegte sich von einem Fuß auf den anderen, aber es geschah verhalten, um nicht unnötig Energie zu vergeuden. Er hatte im Trainingsraum viel Schweiß vergossen, um das erforderliche Gewicht zu erreichen.
»Der Herausforderer ist von«, rief der Ansager – und hier machte er eine kleine Pause, um die Wirkung zu steigern: »jüdischem Blut.« Die Menge buhte und huhte, wie menschliche Schreckgestalten. »Mit einem Gewicht von...«
Der Rest seiner Worte verhallte ungehört. Sie wurden von Schimpfworten von der Tribüne überdröhnt. Max schaute zu, wie seinem Gegner der Mantel abgenommen wurde und er in die Mitte des Rings trat, um dem Herausforderer die Hand zu schütteln und sich, wie es die Tradition verlangte, vom Schiedsrichter die Regeln erklären zu lassen.
»Guten Tag, Herr Hitler.« Max nickte, aber der Führer zeigte nur kurz seine gelben Zähne und verbarg sie rasch wieder hinter seinen Lippen.
»Meine Herren«, sprach ein kurzgewachsener Schiedsrichter in schwarzen Hosen und einem blauen Hemd. An seiner Kehle hing eine Fliege. »Zunächst und vor allem erwarten wir einen fairen und sauberen Kampf.« Er sprach jetzt nur den Führer an. »Es sei denn natürlich, Herr Hitler, wenn Sie am Verlieren sind. Sollte sich dies abzeichnen, dann bin ich durchaus gewillt, ein Auge zuzudrücken und Ihnen jede unsaubere Taktik gegen dieses Stück jüdischen Abschaums durchgehen zu lassen, damit Sie ihn zerquetschen und in die Ringmatte schmieren können.« Er nickte mit großer Höflichkeit. »Ist das klar?«
Der Führer machte zum ersten Mal den Mund auf. »Glasklar.«
Max gegenüber sprach der Schiedsrichter eine Warnung aus. »Was dich betrifft, Drecksjude: Pass gut auf, was du tust. Ich werde dich genau im Auge behalten. Sehr genau sogar.« Dann wurden die beiden Kämpfer wieder in ihre Ecken geschickt.
Eine kurze Stille folgte.
Dann die Glocke.
Als Erster trat der Führer vor, krummbeinig und knochig. Er rannte auf Max zu und stach ihm seine Faust ins Gesicht. Die Menge bebte. Die Glocke klang ihnen noch in den Ohren, und das zufriedene Lächeln aus unzähligen Gesichtern schlang sich um die Seile. Rauchiger Atem entströmte Hitlers Mund, und seine Hände bearbeiteten Max’ Gesicht, schoben es etliche Male hierhin und dorthin, trafen die Lippen, die Nase, das Kinn – und Max war immer noch nicht aus seiner Ecke getreten. Um die Bestrafung abzuwehren, hob er die Hände, doch der Führer zielte stattdessen auf seine Rippen, seine Nieren, seine Lunge. Oh, diese Augen, die Augen des Führers. Sie waren so köstlich braun – wie die Augen eines Juden -, und sie waren so entschlossen, dass selbst Max einen Moment lang wie erstarrt dastand, als er zwischen den trommelnden, schemenhaft schnellen Fäusten des anderen einen Blick auf sie werfen konnte.