Es gab nur eine einzige Runde, und sie dauerte stundenlang. Die meiste Zeit ging es so weiter, wie es begonnen hatte.
Der Führer hämmerte auf den Juden ein wie auf einen Sandsack.
Überall floss jüdisches Blut.
Wie rote Regenwolken auf der himmelweißen Matte aus Leinwand auf dem Boden des Rings.
Schließlich knickten Max’ Knie ein. Seine Wangenknochen stöhnten lautlos. Das entzückte Gesicht des Führers kippte nach oben, nach oben, bis der Jude geschrumpft, geschlagen und gebrochen zu Boden sank.
Ein Aufbrüllen.
Dann Stille.
Der Schiedsrichter zählte. Er hatte einen Goldzahn und eine Unmenge Haare in den Nasenlöchern.
Langsam kam der Jude Max Vandenburg auf die Füße und richtete sich auf. Seine Stimme war wacklig. Eine Einladung. »Kommen Sie, Führer«, sagte er. Als dieses Mal Adolf Hitler seinen jüdischen Gegner attackierte, machte Max einen Schritt zur Seite und stieß ihn in die Ecke. Er schlug ihn sieben Mal und zielte stets auf eine einzige Stelle.
Auf den Schnurrbart.
Beim siebten Mal verfehlte er ihn. Es war das Kinn des Führers, das den Schlag einstecken musste. Ganz unvermittelt hing Hitler in den Seilen und kippte nach vorn, landete auf den Knien. Diesmal wurde nicht gezählt. Der Schiedsrichter zuckte in seiner Ecke zusammen. Das Publikum sank auf die Sitze, griff zum Bier. Kniend suchte der Führer sich nach Blutspuren ab und strich sein Haar glatt, von rechts nach links. Als er sich wieder aufrappelte, unter den anerkennenden Rufen aus Tausenden von Kehlen, trat er vor und tat etwas Merkwürdiges. Er drehte dem Juden den Rücken zu und zog die Boxhandschuhe von den Fäusten.
Die Menge war verblüfft.
»Er gibt auf«, flüsterte jemand, aber schon stand Adolf Hitler auf den Seilen und sprach zur Menge.
»Meine deutschen Freunde«, rief er, »heute Abend habt ihr die Gelegenheit, etwas zu erkennen.« Mit nackter Brust und siegesgewissem Blick deutete er hinüber auf Max. »Ihr erkennt, dass wir uns etwas gegenübersehen, was so finster und mächtig ist, wie wir es uns in unseren kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Erkennt ihr es?«
Sie antworteten. »Ja, mein Führer.«
»Erkennt ihr, dass dieser Feind sich seinen Weg gebahnt hat – einen verabscheuungswürdigen Weg, durch unsere Rüstung hindurch, durch unsere Verteidigungslinie – und dass ich unmöglich allein hier stehen und gegen ihn kämpfen kann?« Seine Worte wurden sichtbar. Sie fielen aus seinem Mund wie Juwelen. »Schaut ihn euch an. Schaut ihn gut an!« Sie schauten. Auf den blutigen Max Vandenburg. »Während wir noch sprechen, überlegt er bereits, wie er uns unterwandern kann. Er zieht in das Haus nebenan. Er schleicht sich in eure Familien ein, mit der Absicht, das Ruder zu übernehmen. Er...« Hitler warf ihm einen Blick voller Verachtung und Abscheu zu. »Er wird euch besitzen, schon bald. Morgen schon wird er in Geschäften, die heute noch euch gehören, nicht etwa an der Verkaufstheke stehen, sondern hinten im Lehnstuhl sitzen und seine Pfeife rauchen. An seiner Stelle werdet ihr die Arbeit tun. Ihr werdet für ihn schuften – für einen Hungerlohn, während er kaum laufen kann, weil seine Taschen bis zum Rand gefüllt sind. Wollt ihr einfach dabeistehen und dies zulassen? Wollt ihr danebenstehen, so wie eure Anführer in der Vergangenheit, als sie euer Land an andere verschenkten, als sie euer Land hergaben für den Preis von ein paar Unterschriften? Wollt ihr machtlos da draußen stehen? Oder«, und jetzt trat er auf das oberste Seiclass="underline" »wollt ihr mit mir in diesen Ring steigen?«
Max zitterte am ganzen Leib. Der Schrecken stotterte in seinem Magen.
Adolf machte ihn fertig. »Wollt ihr mir folgen, damit wir diesen Feind gemeinsam besiegen?«
Im Keller der Himmelstraße 33 fühlte Max Vandenburg die Fäuste einer ganzen Nation. Einer nach dem anderen kletterte in den Ring und schlug ihn nieder. Sie ließen ihn bluten. Sie ließen ihn leiden. Es waren Millionen – bis dann, ein letztes Mal, als er mühsam auf die Füße kam …
Er schaute der nächsten Person entgegen, die sich zwischen den Seilen hindurchschob. Es war ein Mädchen. Langsam überquerte sie die Matte, und er sah eine Träne über ihre linke Wange rinnen. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Zeitung.
»Das Kreuzworträtsel«, sagte sie sanft, »ist noch nicht gelöst.« Dann hielt sie ihm die Zeitung hin.
Dunkelheit.
Nur noch Dunkelheit.
Nur noch ein Keller. Nur noch ein Jude.
Es war Nachmittag. Liesel kam die Kellertreppe herunter. Max hatte die Hälfte seiner Liegestütze absolviert.
Sie schaute eine Weile zu, ohne dass er sie bemerkte. Dann trat sie vor und setzte sich zu ihm. Er stand auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Habe ich dir schon von meinem neuen Traum erzählt?«, fragte er sie.
Liesel rückte ein wenig zur Seite, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
»Aber diesen träume ich, wenn ich wach bin.« Er deutete auf die glutlose Kerosinlampe. »Manchmal mache ich das Licht aus. Dann stehe ich da und warte.«
»Auf was?«
»Nicht auf was. Auf wen.«
Ein paar Augenblicke sagte Liesel nichts. Es war eines jener Gespräche, bei denen zwischen den ausgesprochenen Sätzen etwas Zeit vergehen musste. »Auf wen wartest du?«
Max rührte sich nicht. »Auf den Führer.« Er sagte es ohne jegliche Leidenschaft. »Das ist der Grund, warum ich trainiere.«
»Die Liegestütze?«
»Richtig.« Er ging zur Treppe. »Jede Nacht warte ich im Dunkeln, und der Führer kommt diese Stufen herab. Er kommt zu mir, und dann kämpfen wir, er und ich. Stundenlang.«
Liesel war aufgestanden. »Und wer gewinnt?«
Zuerst wollte er ihr sagen, dass niemand gewinnen würde, aber dann fiel sein Blick auf die Farbeimer, die farbbeklecksten Lumpen und den anwachsenden Stapel aus Zeitungen. Er betrachtete die Worte an den Wänden, das Wolkenseil und die Gestalten darauf.
»Ich«, sagte er.
Es war, als hätte er seine Hand geöffnet, ihr die Antwort überreicht und seine Hand dann wieder geschlossen.
In Molching, Deutschland, standen zwei Menschen unter der Erde und unterhielten sich. Es klingt fast wie der Anfang eines Witzes:
»Ein Jude und ein Deutscher stehen in einem Keller. Sagt der Jude …«
Aber es war kein Witz.
Ein weiteres von Max’ Projekten drehte sich um die Überreste von Mein Kampf. Jede Seite wurde einzeln aus der Bindung gerissen und auf dem Boden ausgelegt, damit sie einen weißen Anstrich bekommen konnte. Dann wurde sie zum Trocknen aufgehängt und wieder zwischen die Buchdeckel gelegt. Als Liesel eines Tages von der Schule nach Hause kam, waren Max, Rosa und ihr Papa dabei, die Seiten anzumalen. Viele hingen bereits mit Wäscheklammern auf einer Leine, genauso wie es damals bei den Vorbereitungen für den Überstehmann gewesen war.
Alle drei schauten auf und sprachen gleichzeitig.
»Hallo, Liesel.«
»Nimm dir einen Pinsel, Liesel.«
»Wird auch Zeit, Saumensch. Wo hast du so lange gesteckt?«
Beim Malen dachte Liesel an Max Vandenburgs Kampf mit dem Führer, so wie er ihn ihr geschildert hatte.
Schläge werden ausgeteilt, die Menge tritt aus den Wänden
hervor. Max und der Führer kämpfen auf Leben und Tod.
Beide prallen gegen die Treppe und taumeln vorwärts. Im