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Endlich stand sie auf und trat den Heimweg an. Der Moment der Reaktion kam, als sie das Schild »Steiner – Schneidermeister« in der Münchener Straße sah. Die Traurigkeit fiel von ihr ab, und sie wurde von Wut übermannt. »Dieser verdammte Bürgermeister«, flüsterte sie. »Diese erbärmliche Frau.« Die Tatsache, dass härtere Zeiten im Anmarsch waren, war doch nur noch ein Grund mehr, um Rosa weiter zu beschäftigen. Aber nein, sie mussten sie ja feuern. Na, wenigstens mussten sie jetzt ihre blöde Wäsche selber waschen, wie normale Leute auch, dachte sie. Wie arme Leute.

In ihrer Hand versteifte sich Der Pfeifer.

»Sie geben mir also das Buch«, sagte das Mädchen, »aus Mitleid – damit sie sich besser fühlen …« Der Umstand, dass ihr das Buch schon früher angeboten worden war, spielte an diesem Tag keine Rolle.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wieder zur Großen Straße, wie sie es schon einmal getan hatte. Die Versuchung zu rennen war riesengroß, aber sie hielt sich zurück, sparte ihre Kraft für die Worte.

Als sie dort ankam, war sie enttäuscht, dass der Bürgermeister nicht zu Hause war. Kein Wagen war hübsch ordentlich am Straßenrand abgestellt, was andererseits vielleicht ganz gut war. Wäre er da gewesen, hätte sie nicht gewusst, was sie in diesem Augenblick, in dem es um Reich gegen Arm ging, mit dem Auto angestellt hätte.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie zur Tür und hämmerte so fest dagegen, dass ihr die Hand wehtat. Sie genoss die kleinen Schmerzfragmente.

Ganz offensichtlich war die Bürgermeistergattin entsetzt, sie wiederzusehen. Ihr fusseliges Haar war feucht, und ihre Falten weiteten sich, als sie die unverkennbare Wut auf Liesels sonst so duldsam blassem Gesicht sah. Sie öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus, was ganz praktisch war, weil Liesel das Reden für sich beanspruchte.

»Sie glauben wohl«, sagte sie, »dass Sie mich mit diesem Buch kaufen können, was?« Ihre Stimme war zwar zittrig, aber sie zerrte am Hals der Frau. Der schimmernde Zorn war dick und zermürbend, aber sie kämpfte sich hindurch. Sie kämpfte sich noch höher hinauf, bis zu einem Punkt, an dem sie sich die Tränen aus den Augen wischen musste. »Sie geben mir dieses saumäßige Buch und denken, dass dann alles gut wird, wenn ich hingehen und meiner Mama sagen muss, dass wir gerade unseren letzten Kunden verloren haben. Während Sie hier in Ihrem großen Haus hocken.«

Die Arme der Bürgermeistergattin.

Sie hingen.

Ihr Gesicht glitt herab.

Liesel allerdings wankte nicht. Sie sprühte ihre Worte geradewegs in die Augen der Frau.

»Sie und Ihr Mann. Hocken hier oben.« Jetzt wurde sie bösartig. Bösartiger und gemeiner, als sie jemals gedacht hätte, in der Lage zu sein.

Die Wunde der Worte.

Ja, die Brutalität der Worte.

Sie beschwor sie von einem Ort herbei, den sie gerade erst ausfindig gemacht hatte, und schleuderte sie Ilsa Hermann entgegen. »Es wird sowieso Zeit«, eröffnete sie ihr, »dass Sie Ihre stinkende Wäsche selbst waschen. Es wird Zeit, dass Sie sich der Tatsache stellen, dass Ihr Sohn tot ist. Er wurde getötet! Er wurde erwürgt und aufgeschnitten, vor mehr als zwanzig Jahren! Oder ist er erfroren? Egal, jedenfalls ist er tot! Er ist tot, und es ist erbärmlich, dass Sie hier sitzen und in Ihrem eigenen Haus frieren, nur damit Sie leiden. Glauben Sie, Sie sind die Einzige?«

Sofort.

Stand ihr Bruder neben ihr.

Er bat sie flüsternd aufzuhören, aber auch er war tot und deshalb nicht wert, dass man auf ihn hörte.

Er starb in einem Zug.

Er wurde im Schnee begraben.

Liesel schaute ihn an, aber sie konnte sich nicht bremsen. Noch nicht.

»Dieses Buch«, fuhr sie fort. Sie schob den Jungen die Treppe hinunter, brachte ihn zum Fallen. »Ich will es nicht.« Die Worte kamen jetzt ruhiger, aber immer noch so heiß wie zuvor. Sie warf das Buch der Frau vor die in Hausschuhen steckenden Füße, hörte das Aufklatschen, als es landete. »Ich will Ihr jämmerliches Buch nicht...«

Jetzt hatte sie es vollbracht. Sie verstummte.

Ihre Kehle war Ödland geworden. Keine Worte, nirgends eine Spur davon.

Ihr Bruder, der sich das Knie hielt, verschwand.

Nach einer verirrten Pause bückte sich die Frau des Bürgermeisters und hob das Buch auf. Sie war zerschlagen und zerschmettert, und diesmal nicht wegen eines Lächelns. Liesel sah es in ihrem Gesicht. Blut strömte ihr aus der Nase und leckte an ihren Lippen. Ihre Augen waren Blutergüsse. Haut war aufgeplatzt, sie war geschwollen. Alles wegen der Worte. Liesels Worten.

Sie richtete sich aus gebückter Kauerhaltung zu gebeugtem Stand auf, das Buch in der Hand, und wollte sich noch ein Mal an die Arbeit machen, wollte sagen, dass es ihr leidtat, aber der Satz fand nicht den Weg hinaus.

Schlag mich, dachte Liesel. Mach schon, schlag mich.

Ilsa Hermann schlug sie nicht. Sie zog sich nur zurück, in die hässliche Luft ihres wunderschönen Hauses, und erneut wurde Liesel alleingelassen. Sie klebte an den Stufen, zögerte, sich umzuwenden. Sie wusste, wenn sie es tat, würde die Glasglocke über Molching zersprungen sein, und sie wäre froh darüber.

Als letzte Amtshandlung des erliegenden Geschäfts las sie den Brief ein zweites Mal. Als sie das Haus der Hubermanns fast erreicht hatte, knüllte sie das Papier so fest zusammen, wie sie konnte, und warf es gegen die Tür, als wäre es ein Stein. Ich habe keine Ahnung, was die Bücherdiebin erwartete, aber der Papierball traf auf die mächtige Holzplatte und plumpste dann zurück auf die Stufen. Er landete vor ihren Füßen.

»Typisch«, bemerkte sie und trat ihn ins Gras. »Völlig nutzlos.«

Sie stellte sich vor, was mit dem Papier geschehen würde, wenn es das nächste Mal regnete und die geklebte Glasglocke über Molching umkippte. Sie sah vor sich, wie sich die Worte auflösten, Buchstabe für Buchstabe, bis nichts mehr davon übrig war. Nur Papier. Nur Erde.

Wie das Leben so spielt, war Rosa in der Küche, als Liesel ins Haus kam. »Und?«, fragte sie. »Wo ist die Wäsche?«

»Keine Wäsche heute«, sagte Liesel zu ihr.

Rosa kam zu ihr und setzte sich an den Küchentisch. Sie wusste es. Plötzlich wirkte sie viel älter. Liesel stellte sich vor, wie sie aussehen könnte, wenn sie ihren Haarknoten öffnen und die Strähnen auf die Schultern fallen lassen würde. Ein graues Tuch aus dehnbaren Haaren.

»Was hast du angestellt, Saumensch?« Der Satz war trübe. Rosa schaffte es nicht, ihn mit ihrem Gift zu tränken.

»Es ist meine Schuld«, sagte Liesel. »Ganz und gar meine Schuld. Ich habe die Frau des Bürgermeisters beleidigt und ihr gesagt, sie solle aufhören, ihren toten Sohn zu beweinen. Ich habe sie ›erbärmlich‹ genannt. Und sie haben dich gefeuert. Hier.« Sie ging zur Anrichte, wo die Kochlöffel standen, griff sich ein paar davon mit einer Hand und legte sie vor Rosa auf den Tisch. »Such dir einen aus.«

Rosa berührte einen, umschloss ihn mit der Hand, ließ ihn dann jedoch sinken. »Ich glaub dir kein Wort.«

Liesel war hin- und hergerissen zwischen Kummer und abgrundtiefer Verwirrung. Das eine Mal, da sie selbst nach einer Abreibung verlangte, bekam sie keine. »Es ist meine Schuld.«

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Mama, stand auf und strich Liesel gar über das wächserne, ungewaschene Haar. »Ich weiß, dass du so etwas nicht sagen würdest.«

»Ich hab’s aber gesagt!«

»Also schön, du hast es gesagt.«

Liesel verließ die Küche. Sie hörte, wie der Kochlöffel mit einem Klicken in den Aluminiumkrug gestellt wurde, wo er hingehörte. Als sie in ihrem Zimmer verschwand, landeten die Löffel samt Krug auf dem Küchenfußboden.