Sie trafen sich auf den Treppenstufen vor dem schuhkartonkleinen Haus der Steiners, und Rudi erzählte ihr von dem Ereignis des Tages.
Nach zehn Minuten setzte sich Liesel hin.
Nach elf Minuten sagte Tommi, der neben ihr saß: »Es ist alles meine Schuld«, aber Rudi winkte ab, irgendwo zwischen einem Satz und einem Lächeln, wobei er einen Schlammstreifen auf seinem Gesicht mit den Fingern entzweibrach. »Es ist meine...«, fing Tommi wieder an, aber Rudi zerbrach auch den Satz und deutete mit dem Finger auf ihn.
»Tommi, bitte.« Auf Rudis Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck von Zufriedenheit. Liesel hatte noch nie jemanden gesehen, der so am Boden zerstört und gleichzeitig so durch und durch lebendig war. »Halt einfach den Mund, und... zucke.« Dann fuhr er mit seiner Geschichte fort.
Er lief auf und ab.
Er zerrte an seinem Schlips.
Er warf ihr die Worte zu, die irgendwo vor ihr auf den Zementstufen landeten.
»Dieser Deutscher«, fasste er munter zusammen. »Der hat’s uns ganz schön gezeigt, was, Tommi?«
Tommi nickte, zuckte und sprach, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge: »Und alles meinetwegen.«
»Tommi, was habe ich dir gesagt?«
»Wann?«
»Gerade eben. Halt den Mund!«
»Klar, Rudi.«
Kurze Zeit später ging Tommi niedergeschlagen nach Hause. Rudi versuchte es mit einer neuen Taktik, die ihm sehr schlau vorkam.
Mitleid.
Auf den Stufen sitzend, betrachtete er den Schlamm, der zu einem krustigen Belag auf seiner Uniform getrocknet war. Dann schaute er Liesel mit verlorenem Blick in die Augen. »Wie wär’s, Saumensch?«
»Wie wäre was?«
»Du weißt schon …«
Liesel reagierte wie üblich. »Saukerl!«, lachte sie und ging dann die paar Schritte nach Hause. Eine irritierende Mischung aus Schlamm und Mitleid war eine Sache, aber Rudi Steiner zu küssen war immer noch etwas völlig anderes.
Er blieb mit einem traurigen Lächeln auf den Stufen sitzen, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rief ihr nach: »Eines Tages«, warnte er sie. »Eines Tages, Liesel!«
Etwas mehr als zwei Jahre später, als Liesel in den frühen Morgenstunden im Keller saß und schrieb, wäre sie zu gerne hinübergegangen, um ihn zu sehen. Ihr war klar, dass diese verflixten Zeiten in der Hitlerjugend seine kriminelle Ader – und gleichzeitig auch ihre – gefördert hatten.
Denn endlich fing der Sommer an, trotz der unzeitgemäßen Regenschauer. Die Klaräpfel wurden langsam reif. Zeit für ein paar Diebeszüge.
DIE VERLIERER
Was das Stehlen anging, waren Liesel und Rudi der Meinung, dass sie in der Gruppe sicherer waren. Andi Schmeikl sagte ihnen Bescheid, dass sich die Bande am Fluss treffen würde. Unter anderem sollte ein Plan zum Obststehlen entworfen werden.
»Also bist du jetzt der Anführer?«, fragte Rudi, aber Andi schüttelte mit sichtbarer Enttäuschung den Kopf. Er wünschte sich wohl, dass er das Zeug zum Anführer hätte.
»Nein.« Seine kühle Stimme war ungewöhnlich warm. Wie halb durchgebacken. »Das ist jemand anderes.«
Er hatte windiges Haar und wolkige Augen,
und er besaß jene Art von krimineller Energie,
die dazu führt, dass man keinen anderen Grund braucht,
um zu stehlen – außer schlichten Spaß.
Sein Name war Viktor Chemmel.
Anders als die meisten Leute, die sich mit Diebstahl jeglicher Form abgaben, besaß Viktor Chemmel alles. Er lebte in einer der besten Wohngegenden Molchings, hoch oben in einer Villa, die konfisziert worden war, nachdem man die Juden daraus vertrieben hatte. Er besaß Geld. Er besaß Zigaretten. Aber er wollte mehr.
»Es ist doch kein Verbrechen, ein bisschen mehr haben zu wollen«, behauptete er. Er lag auf dem Rücken im Gras, umringt von einigen Jungen. »Mehr zu wollen ist unser fundamentales Recht als Deutsche. Was sagt unser Führer immer?« Er beantwortete sich selbst die rhetorische Frage: »Wir nehmen uns, was rechtmäßig uns gehört.«
Dem ersten Eindruck nach war Viktor Chemmel ein typischer jugendlicher Großkotz. Unglücklicherweise besaß er auch ein gewisses Charisma, eine Art Aufforderung, sich ihm anzuschließen. Und unglücklicherweise gelang es ihm nicht immer, dieses Charisma zu verbergen.
Als Liesel und Rudi sich der Gruppe am Fluss näherten, hörte Liesel ihn eine weitere Frage stellen: »Wo bleiben denn nun diese beiden Trottel, von denen ihr in höchsten Tönen schwärmt? Es ist schon zehn nach vier.«
»Nicht nach meiner Uhr«, sagte Rudi.
Viktor Chemmel stützte sich auf den Ellbogen. »Du hast doch gar keine Uhr an.«
»Wäre ich hier, wenn ich reich genug wäre, um mir eine Uhr zu kaufen?«
Der neue Anführer setzte sich auf und lächelte. Er hatte ebenmäßige, weiße Zähne. »Und wer ist die kleine Hure da?« Liesel, die an Beschimpfungen gewöhnt war, betrachtete lediglich die nebelverhangene Oberfläche seiner Augen.
»Im letzten Jahr«, erklärte sie unverfroren, »habe ich mindestens dreihundert Äpfel gestohlen und Dutzende von Kartoffeln. Stacheldraht macht mir keine Probleme, und ich kann genauso schnell laufen wie die anderen.«
»Tatsächlich?«
»Ja.« Sie wich keinen Zentimeter zurück. »Alles, was ich will, ist ein kleiner Teil unserer Beute. Ein Dutzend Äpfel hier und da. Ein paar Reste für mich und meinen Freund.«
»Nun, ich denke, das lässt sich machen.« Viktor zündete sich eine Zigarette an und hob sie an seine Lippen. Den nächsten Mundvoll Rauch blies er Liesel direkt ins Gesicht.
Liesel hustete nicht.
Es war dieselbe Gruppe wie im letzten Jahr, mit Ausnahme des Anführers. Liesel fragte sich, warum keiner der anderen Jungen sich an die Spitze gestellt hatte, aber als sie von einem zum anderen schaute, erkannte sie, dass sie nicht das Zeug dazu gehabt hätten. Das Stehlen bereitete ihnen keine Probleme, aber man musste ihnen sagen, was sie tun sollten. Sie wollten, dass man es ihnen sagte, und Viktor Chemmel wollte einer sein, der das Sagen hatte. Es war ein Abkommen, das beide Seiten zufriedenstellte.
Einen Augenblick lang wünschte sich Liesel Arthur Berg zurück. Oder hätte auch er sich Viktor Chemmel untergeordnet? Es spielte keine Rolle. Liesel wusste lediglich, dass Arthur Berg nicht den Hauch eines tyrannischen Zuges an sich gehabt hatte, während Viktor Chemmel ordentlich damit aufwarten konnte. Letztes Jahr, da war sie sich sicher, hätte sie in einem Baum feststecken können, und Arthur wäre zurückgekommen, um ihr zu helfen, auch wenn er es immer anders gepredigt hatte. Sie war der festen Überzeugung, dass in diesem Jahr Viktor Chemmel nicht ein Mal zurückblicken würde.
Er stand da und betrachtete den schlaksigen Jungen und das unterernährt wirkende Mädchen. »Ihr wollt also mit mir stehlen gehen?«
Was hatten sie schon zu verlieren? Sie nickten.
Er trat näher und packte Rudi am Haar. »Ich will es hören.«
»Ja, sicher«, sagte Rudi. Mit einem Klaps auf die Stirnfransen schob Chemmel ihn zurück.
»Und du?«
»Natürlich.« Liesel reagierte schnell genug, sodass ihr Haar unversehrt blieb.
Viktor lächelte. Er drückte die Zigarette aus, atmete tief ein und kratzte sich an der Brust. »Meine Herren, meine Hure, ich glaube, es ist Zeit, einkaufen zu gehen.«
Während die Gruppe sich in Bewegung setzte, blieben Liesel und Rudi am Ende, so wie stets.
»Magst du ihn?«, fragte Rudi flüsternd.
»Und du?«
Rudi dachte einen Moment lang nach. »Ich halte ihn für einen Mistkerl.«
»Ich auch.«
Die Gruppe war schon ein Stück voraus.
»Komm schon«, sagte Rudi, »sonst verlieren wir den Anschluss.«
Nach ein paar Kilometern erreichten sie den ersten Bauernhof, wo sie ein erschreckender Anblick erwartete: Die Bäume, von denen sie gedacht hatten, dass sie prallvoll mit Früchten hingen, sahen dürr und irgendwie verwundet aus. Nur eine kleine Anzahl Äpfel baumelte erbärmlich von den Ästen. Auf dem nächsten Bauernhof war es nicht anders. Vielleicht war es ein schlechtes Jahr, oder sie hatten den falschen Zeitpunkt erwischt.