Am Ende des Nachmittags, als die Beute geteilt wurde, erhielten Liesel und Rudi lediglich einen einzigen Apfel, den sie sich teilen mussten. Gerechterweise muss gesagt werden, dass die Ernte insgesamt ziemlich mager ausgefallen war, aber ein weiterer Grund lag darin, dass Viktor Chemmel ein anderes Regiment führte als Arthur Berg.
»Was soll das denn sein?«, fragte Rudi mit dem Apfel in der offenen Hand.
Viktor drehte sich nicht einmal um. »Wie sieht es denn aus?« Die Worte fielen über seine Schulter.
»Ein lausiger Apfel?«
»Hier.« Eine halb aufgegessene Frucht kam zu ihnen gesegelt und landete mit der angebissenen Seite nach unten im Dreck. »Den könnt ihr auch noch haben.«
Rudi war erbost. »Zum Teufel damit. Wir sind doch keine zehn Kilometer für einen Apfel und einen Apfelkrotzen gelaufen, oder, Liesel?«
Liesel gab keine Antwort.
Sie hatte gar keine Gelegenheit dazu, denn Viktor Chemmel hatte sich auf Rudi gestürzt, bevor sie noch ein Wort sagen konnte. Seine Knie nagelten Rudis Arme auf dem Boden fest, und seine Hände lagen um Rudis Hals. Die Äpfel wurden aufgelesen, von niemand anderem als von Andi Schmeikl.
»Du tust ihm weh«, sagte Liesel.
»Tatsächlich?« Viktor lächelte wieder. Sie verabscheute dieses Lächeln.
»Er tut mir nicht weh.« Rudis Worte drängten sich aneinander, und sein Gesicht war rot vor Anstrengung. Seine Nase fing an zu bluten.
Viktor verstärkte den Druck noch einmal und ließ Rudi dann los, kletterte von ihm herunter und trat gelassen zur Seite. Er sagte: »Steh auf, Junge«, und Rudi tat klugerweise, was ihm gesagt worden war.
Gelassen trat Viktor ganz nah an ihn heran und sah ihm geradewegs ins Gesicht. Er rieb ihm beinahe sanft den Arm. Ein Flüstern. »Wenn du nicht willst, dass dieses Rinnsal aus Blut sich in einen Springbrunnen verwandelt, dann verschwindest du jetzt besser, Kleiner.« Er schaute Liesel an. »Und nimm die kleine Schlampe gleich mit.«
Keiner rührte sich.
»Worauf wartet ihr?«
Liesel nahm Rudi an der Hand, und sie gingen davon. Ein letztes Mal drehte sich Rudi um und spuckte Blut und Speichel vor Viktor Chemmels Füße. Eine Geste, die ihm ein abschließendes Versprechen einbrachte.
»Das wirst du mir noch büßen, mein Freund.«
Man kann über Viktor Chemmel sagen, was man will, jedenfalls besaß er Geduld und ein gutes Gedächtnis. Es dauerte etwa fünf Monate, bis er sein Versprechen einlöste.
SKIZZEN
Der Sommer des Jahres 1941 wölbte sich um Menschen wie Rudi und Liesel, doch er schrieb und malte sich in das Leben von Max Vandenburg. In seinen einsamsten Momenten im Keller häuften sich die Worte um ihn herum auf. Die Bilder strömten und fielen und gelegentlich humpelten sie auch aus seinen Händen.
Er besaß ein kleines Arsenal an Werkzeug, wie er es nannte:
Ein weiß bemaltes Buch.
Eine Handvoll Bleistifte.
Einen Geist voller Gedanken.
Und wie ein einfaches Puzzle, so setzte er all dies zusammen.
Ursprünglich hatte Max vorgehabt, seine eigene Geschichte zu schreiben.
Seine Idee war es, über all das zu schreiben, was ihm widerfahren war – und was ihn in den Keller in der Himmelstraße geführt hatte -, doch nicht diese Idee wurde Wirklichkeit. Max’ Exil schuf etwas völlig anderes. Es war eine Sammlung von willkürlichen Gedanken, und er beschloss, sich darauf einzulassen. Es fühlte sich wahrhaftig an. Diese Gedanken waren wirklicher als die Briefe, die er an seine Familie und an seinen Freund Walter Kugler schrieb, wohl wissend, dass er sie nie würde abschicken können. Aus den geschändeten Seiten von Mein Kampf entsprangen Skizzen, Seite für Seite, die in Max’ Augen die Ereignisse zusammenfassten, die dem Wechsel von seinem früheren in sein jetziges Leben zugrunde lagen. Für einige brauchte er Minuten, für andere Stunden. Er dachte, dass er das fertige Buch Liesel schenken würde, wenn sie alt genug war und dieser ganze Irrsinn hoffentlich hinter ihnen liegen würde.
Von dem Moment an, in dem er die Bleistifte auf den ersten weiß gemalten Seiten ausprobiert hatte, hielt er das Buch stets geschlossen. Oft lag es neben ihm oder immer noch zwischen seinen Fingern, wenn er schlief.
Eines Nachmittags, nach seinen täglichen Körperertüchtigungen, schlief er, an die Kellerwand gelehnt, ein. Liesel kam herunter und sah das Buch neben ihm liegen, leicht gegen seinen Oberschenkel geneigt. Die Neugier übermannte sie. Sie bückte sich und hob es auf, wartete darauf, dass er sich rührte. Er tat es nicht. Max saß mit seinem Kopf und den Schulterblättern an der Wand. Liesel konnte kaum das Geräusch seines Atems hören, der in ihn hineinströmte und wieder herausfloss. Sie öffnete das Buch und blätterte ein paar Seiten um …
Nicht der Führer – der Dirigent!
Verängstigt durch das, was sie sah, legte Liesel das Buch zurück, genau so, wie sie es vorgefunden hatte, an Max’ Bein gelehnt.
Eine Stimme schreckte sie auf.
»Danke schön«, sagte die Stimme, und als sie mit den Augen der Spur des Klangs zu ihrem Besitzer folgte, erkannte sie einen zufriedenen Ausdruck auf den jüdischen Lippen.
»Meine Güte«, keuchte Liesel, »hast du mich erschreckt, Max.«
Er kehrte zu seinem Schlaf zurück. Hinter ihm zog das Mädchen den Gedanken hinter sich die Treppe hoch.
Du hast mich erschreckt, Max.
DER PFEIFER UND DIE SCHUHE
Dieses Muster zog sich bis zum Ende des Sommers und in den Herbst hinein. Rudi tat sein Bestes, um die Hitlerjugend zu überstehen. Max machte Liegestütze und Skizzen. Liesel fand Zeitungen und schrieb Worte an die Kellerwand.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass jedes Muster zumindest einen kleinen Fehler aufweist und irgendwann über sich selbst stolpert oder kippt. In diesem Fall war Rudi der Auslöser, oder besser gesagt: Rudi und ein frisch gedüngter Sportplatzrasen.
Es war Ende Oktober, und alles schien wie immer zu sein. Ein schmutziger Junge ging durch die Himmelstraße. In ein paar Minuten würde seine Familie seine Heimkehr erwarten, und er würde lügen, dass jeder in der Hitlerjugend einen Extradrill auf dem Sportplatz über sich hätte ergehen lassen müssen. Seine Eltern würden sogar erwarten, dass er darüber lachte. Sie begriffen es nicht.
Heute aber waren Rudi die Lügen und das Gelächter ausgegangen.
An diesem besonderen Dienstag sah Liesel, als sie genauer hinschaute, dass Rudi Steiner kein Hemd trug. Und vor Wut kochte.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als er vorübertrottete.
Er kehrte um und hielt ihr sein Hemd entgegen. »Riech mal«, sagte er.
»Was?«
»Bist du taub? Ich sagte, riech mal.«
Zögernd beugte sich Liesel vor und erschnupperte den ekelhaften Hauch, der von dem braunen Kleidungsstück ausging. »Jesus, Maria und Josef. Ist das...?«
Der Junge nickte. »Es klebt auch an meinem Kinn. An meinem Kinn! Ich kann von Glück sagen, dass ich das Zeug nicht geschluckt habe!«
»Jesus, Maria und Josef«.
»Der Sportplatz beim HJ-Haus ist frisch gedüngt.« Er bedachte sein Hemd mit einem weiteren halbherzigen, angeekelten Blick. »Ich glaube, es ist Kuhmist.«
»Hat dieser... wie heißt er doch gleich? … Hat dieser Deutscher das gewusst?«
»Er sagt Nein. Aber er hat dabei gegrinst«.