»Jesus, Maria und...«
»Könntest du bitte damit aufhören!«
Was Rudi in diesem Moment brauchte, war ein Sieg. Er hatte das Geplänkel mit Viktor Chemmel verloren. Er hatte eine Niederlage nach der anderen bei der Hitlerjugend eingesteckt. Alles, was er wollte, war ein klitzekleiner Triumph, und er war entschlossen, ihn sich zu holen.
Er setzte seinen Heimweg fort, aber als er die Eingangsstufen erreichte, änderte er seine Meinung und ging langsam und entschlossen zu dem Mädchen zurück.
Behutsam und leise fragte er: »Weißt du, was mich aufheitern würde?«
Liesel zuckte zusammen. »Wenn du glaubst, dass ich dich... in diesem Zustand!«
Er schien von ihr enttäuscht zu sein. »Nein, nicht das.« Er seufzte und kam näher. »Etwas anderes.« Nach einem Moment des Nachdenkens hob er den Kopf, nur ein kleines Stück. »Schau mich an. Ich bin dreckig. Ich rieche nach Kuhscheiße oder Hundescheiße oder was auch immer, und wie üblich habe ich einen Bärenhunger.« Er verstummte und sprach dann weiter. »Ich muss mal wieder gewinnen, Liesel. Ehrlich.«
Da verstand Liesel.
Sie wäre näher gekommen, wenn er nicht so schrecklich gestunken hätte.
Stehlen.
Sie mussten etwas stehlen.
Nein.
Sie mussten etwas zurückstehlen. Egal was. Es musste nur bald geschehen.
»Diesmal nur du und ich«, sagte Rudi. »Kein Chemmel, kein Schmeikl. Nur du und ich.«
Das Mädchen konnte sich nicht helfen.
Ihre Hände juckten, ihr Puls spaltete sich, und ihr Mund lächelte, alles gleichzeitig. »Hört sich gut an.«
»Also abgemacht.« Und obwohl er es unterdrücken wollte, stahl sich ein frisch gedüngtes Grinsen auf sein Gesicht, das Wurzeln schlug und austrieb. »Morgen?«
Liesel nickte. »Morgen.«
Ihr Plan war perfekt, bis auf eine Kleinigkeit.
Sie hatten keine Ahnung, wie sie es anstellen sollten.
Obst kam nicht infrage. Rudi rümpfte die Nase bei dem Gedanken an Zwiebeln und Kartoffeln, und ein weiterer Anschlag auf Otto Sturm und seinen Korb voll Lebensmittel stand ebenfalls nicht zur Diskussion. Ein Mal war unmoralisch. Zwei Mal wäre der Gipfel der Gemeinheit gewesen.
»Also, was sollen wir tun?«, fragte Rudi.
»Woher soll ich das wissen? Es war deine Idee, oder etwa nicht?«
»Das heißt nicht, dass du nicht auch ein bisschen nachdenken kannst. Ich muss doch nicht immer alle Ideen haben.«
»Du hast ja nicht mal eine.«
Sie stritten sich, während sie durch die Straßen liefen. Am Stadtrand blieben sie am erstbesten Bauernhof stehen und betrachteten die Bäume, die wie ausgemergelte Statuen dastanden. Die Zweige und Äste waren grau, und als sie den Stämmen mit den Blicken nach oben folgten, sahen sie nichts als zerzauste Glieder und einen leeren Himmel.
Rudi spuckte aus.
Sie gingen zurück nach Molching und grübelten weiter.
»Was ist mit Frau Lindner?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Wenn wir ›Heil Hitler‹ sagen und dann was stehlen, kann uns doch nichts passieren, oder?«
Nachdem sie etwa eine Stunde lang durch die Münchener Straße gestrolcht waren, zog sich das Tageslicht langsam, aber sicher zurück, und die beiden standen kurz davor aufzugeben. »Es hat keinen Sinn«, sagte Rudi, »und ich bin jetzt hungriger als je zuvor. Ich bin am Verhungern, verdammt nochmal.« Er ging noch etwa ein Dutzend Schritte; dann blieb er stehen und schaute zurück. »Was ist los mit dir?«, fragte er, denn Liesel war stehen geblieben, und auf ihrem Gesicht machte sich eine Erleuchtung breit.
Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht?
»Was ist los?« Rudi wurde ungeduldig. »Sag schon, Saumensch!«
In diesem Augenblick stand Liesel vor einer Entscheidung. Konnte sie das wirklich durchziehen? Konnte sie tatsächlich an jemandem eine derartige Rache nehmen? Konnte sie jemanden so verachten?
Sie ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Als Rudi sie einholte, verlangsamte sie ihren Schritt ein wenig, in der vergeblichen Hoffnung, ein bisschen klarer zu sehen. Sie fühlte sich bereits jetzt schuldig. Die Schuld war feucht. Der Same keimte bereits, wurde zu einer Blume mit dunklen Blüten. Sie wog ab, ob sie tatsächlich in der Lage war, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
An der Kreuzung blieb sie stehen.
»Ich weiß was.«
Sie überquerten den Fluss und stiegen den Hügel hinauf.
In der Großen Straße bewunderten sie die Pracht der Häuser. Die Eingangstüren waren poliert, sodass sie glänzten, und die Dachziegel saßen auf den Gebäuden wie Toupets, die makellos frisiert waren. Die Wände und Fenster wirkten manikürt, und es hätte niemanden verwundert, wenn die Schornsteine vollkommene Rauchkringel ausgeblasen hätten.
Rudi stand breitbeinig da. »Das Haus des Bürgermeisters?«, fragte er.
Liesel nickte ernst. Eine Pause. »Sie haben meine Mama entlassen.«
Als sie darauf zuschlichen, fragte Rudi, wie in Gottes Namen sie ins Haus kommen sollten, aber Liesel wusste es genau. »Ortskenntnis«, sagte sie. »Orts…« Aber als sie das Fenster in der Bibliothek am Ende des Hauses erblickten, erwartete Liesel ein Schock. Das Fenster war geschlossen.
»Nun?«, fragte Rudi.
Langsam drehte sich Liesel um und hastete dann davon. »Heute nicht«, sagte sie.
Rudi lachte. »Wusst ich’s doch.« Er holte sie ein. »Wusst ich’s doch, Saumensch. Du könntest da nicht reinkommen, selbst wenn du einen Schlüssel hättest.«
»Halt den Mund!« Sie beschleunigte ihre Schritte zusehends und wischte Rudis Kommentar beiseite. »Wir müssen einfach den richtigen Zeitpunkt abwarten.« Innerlich rückte sie von einem Gefühl der Erleichterung ab, das aufgekommen war, als sie gesehen hatte, dass das Fenster geschlossen war. Sie schalt sich im Stillen. Warum, Liesel?, fragte sie sich. Warum nur musstest du so in die Luft gehen, als sie Mama gefeuert haben? Warum hast du nicht deinen Mund gehalten? Wahrscheinlich hast du der Frau des Bürgermeisters so den Kopf gewaschen, dass sie sich besonnen, sich zusammengerissen hat und jetzt wieder völlig normal ist. Vielleicht wird sie nie mehr zulassen, dass sie in diesem Haus friert, und das Fenster wird für immer geschlossen sein. Saumensch, du blödes!
Aber eine Woche später, bei ihrem fünften Besuch im oberen Molching, stand das Fenster offen.
Eine Scheibe Luft wurde ins Haus geatmet.
Das war alles, was nötig war.
Es war Rudi, der zuerst stehen blieb. Er versetzte Liesel mit dem Handrücken einen Klaps gegen die Rippen. »Ist dieses Fenster«, flüsterte er, »tatsächlich offen?« Der Eifer in seiner Stimme lehnte sich aus seinem Mund wie ein Unterarm auf Liesels Schulter.
»Jawohl«, antwortete sie, »das ist es.«
Und wie ihr Herz zu hämmern begann!
Bei ihren früheren Besuchen, als sie das Fenster jedes Mal fest verschlossen vorgefunden hatten, hatte Liesels offensichtliche Enttäuschung die heftige Erleichterung in ihrem Herzen verborgen. Hätte sie den Mut gehabt, durch das Fenster zu steigen? Und weswegen wollte sie überhaupt dort hinein? Um Essen zu stehlen?
Nein, die widerwärtige Wahrheit sah folgendermaßen aus:
Lebensmittel waren ihr egal. Rudi spielte bei der ganzen Sache nur eine nebensächliche Rolle, auch wenn sie sich das nur schwer eingestehen konnte. Was sie wollte, war das Buch. Der Pfeifer. Sie konnte es nicht ertragen, dass diese einsame, erbärmliche Frau es ihr schenkte. Es zu stehlen schien ihr akzeptabler zu sein. Wenn sie es stahl, dann hatte sie irgendwie – merkwürdigerweise – das Gefühl, es sich verdient zu haben.
Das Licht wandelte sich zu Blöcken aus Schatten.
Die beiden näherten sich dem prächtigen, klobigen Haus, als würden sie davon angezogen werden. Kurz tauschten sie ihre Gedanken aus.
»Hunger?«, fragte Rudi.
Liesel erwiderte: »Bärenhunger.« Auf ein Buch.
»Schau mal – oben wurde gerade das Licht eingeschaltet.«