»Ich hab’s gesehen.«
»Immer noch hungrig, Saumensch?«
Nervös lachten sie kurz auf, ehe sie besprachen, wer hineingehen und wer draußen bleiben und Wache stehen sollte. Als der männliche Teil der Operation meinte Rudi, dass er die Tat ausführen sollte, aber andererseits kannte sich Liesel hier aus. Sie war es, die hineingehen würde. Sie wusste, was sie auf der anderen Seite des Fensters erwartete.
Und sie sagte es auch. »Ich gehe.«
Liesel schloss die Augen. Fest.
Sie zwang sich, sich zu erinnern, zwang Bilder des Bürgermeisters und seiner Gattin vor ihr geistiges Auge. Sie betrachtete ihre zusammengeklaubte Freundschaft mit Ilsa Hermann und sorgte dafür, dass sie auch sah, wie sie in den Staub getreten und in der Gosse liegen gelassen wurde. Es funktionierte. Sie verabscheute diese Leute.
Sie schauten sich prüfend um und überquerten dann den Hof.
Jetzt kauerten sie unter dem Schlitz im Fenster des Erdgeschosses. Das Geräusch ihres Atems verstärkte sich.
»Komm«, sagte Rudi, »gib mir deine Schuhe. Dann machst du nicht so viel Lärm.«
Ohne Widerspruch schnürte Liesel die abgetragenen schwarzen Schuhe auf und ließ sie auf dem Boden stehen. Sie erhob sich, und Rudi öffnete das Fenster, vorsichtig, gerade so weit, dass Liesel hindurchsteigen konnte. Die Geräusche, die sie dabei verursachte, zogen über sie hinweg wie ein niedrig fliegendes Flugzeug.
Liesel hievte sich auf den Sims und schob sich ins Haus. Es war eine gute Idee gewesen, die Schuhe auszuziehen: Sie landete viel heftiger auf dem Holzboden als erwartet. Ihre Fußsohlen dehnten sich schmerzhaft, und die Wucht wanderte bis zu den Kanten ihrer Socken.
Der Raum war so wie immer.
In der staubigen Dämmerung schüttelte Liesel den Anflug von Nostalgie ab. Sie schlich vorwärts und wartete darauf, dass sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnten.
»Was ist los?«, flüsterte ihr Rudi mit scharfer Stimme von draußen zu, aber sie winkte ab, ohne sich umzudrehen, was so viel bedeuten sollte wie: »Halt’s Maul!«
»Das Essen«, gemahnte er sie, »such nach dem Essen. Und Zigaretten, wenn’s geht.«
Doch weder das eine noch das andere stand auf Liesels Liste. Sie war daheim, zwischen den Büchern des Bürgermeisters, die in allen möglichen Farben und Größen schimmerten, mit ihrer silbernen und goldenen Beschriftung. Sie konnte die Seiten riechen. Sie konnte fast die Worte schmecken, die um sie herum aufgestapelt waren. Ihre Füße trugen sie zu der Wand rechts von ihr. Sie wusste, wo das Buch stand, das sie wollte, kannte seine genaue Position – aber als sie dort ankam, war es nicht da. An seiner Stelle prangte eine Lücke im Regal.
Sie hörte, wie sich von oben Schritte näherten.
»Das Licht!«, flüsterte Rudi. Er schob die Worte durch das offene Fenster. »Es ist aus!«
»Scheiße!«
»Sie kommen runter.«
Den Worten folgte ein ellenlanger Moment, dann die Ewigkeit einer sekundenschnellen Entscheidung. Ihre Augen huschten durch den Raum, und da sah sie es. Der Pfeifer lag geduldig auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters.
»Beeil dich!«, warnte Rudi sie. Aber Liesel ging sehr ruhig und gemessenen Schrittes zum Schreibtisch, nahm das Buch und schlüpfte vorsichtig und leise wieder aus dem Haus. Mit dem Kopf zuerst kletterte sie aus dem Fenster, schaffte es trotzdem, auf ihren Füßen zu landen, spürte noch einmal das Brennen in ihren Fußsohlen und in ihren Knöcheln.
»Komm schon!«, flehte Rudi. »Lauf, lauf! Schnell!«
Als sie um die Ecke waren und wieder auf der Straße, die zum Fluss und zur Münchener Straße führte, blieb Liesel stehen, beugte sich nach vorn, stützte die Hände auf die Oberschenkel und schnappte nach Luft. Ihr Körper fühlte sich an wie zusammengefaltet. Die Luft in ihrem Mund war halb erfroren, und ihr Herz schlug wie eine Glocke in ihren Ohren.
Rudi ging es nicht anders.
Als er zu ihr schaute, sah er das Buch unter ihrem Arm. Er kämpfte mit den Worten. »Was...«, keuchte er, »ist das für ein Buch?«
Die Dunkelheit füllte die Welt auf. Liesel japste, und die Luft in ihrer Kehle taute auf. »Das war alles, was ich finden konnte.«
Unglücklicherweise witterte Rudi die Wahrheit. Erkannte die Lüge. Er legte den Kopf schräg und sagte rundheraus: »Du wolltest gar nicht wegen dem Essen da rein, stimmt’s? Du hast gefunden, was du gesucht hast …«
Da richtete sich Liesel auf. Die Erkenntnis überzog sie mit einer schlierigen Übelkeit.
Die Schuhe.
Sie schaute Rudis Füße an, seine Hände und dann den Boden um sich herum.
»Was?«, fragte er. »Was ist los?«
»Saukerl!«, fauchte sie ihn an. »Wo sind meine Schuhe?« Rudis Gesicht wurde weiß, was auch den letzten Rest von Zweifel beseitigte. »Unter dem Fenster«, sagte sie, »stimmt’s?«
Rudi blickte sich verzweifelt suchend um, bettelte entgegen jeder Hoffnung, dass er sie vielleicht doch mitgebracht hatte. Er stellte sich vor, wie er sie aufhob, und wünschte sich, dass es wahr wäre. Aber die Schuhe waren nicht da. Sie standen nutzlos – oder schlimmer noch: verräterisch – neben der Hauswand der Großen Straße 8.
»Dummkopf!«, fuhr sie ihn an und schlug ihn aufs Ohr. Verschämt schaute er auf Liesels Socken, die einen traurigen Anblick boten. »Idiot!« Es dauerte nicht lange, bis er sich entschloss, seinen Fehler wiedergutzumachen. Mit ernster Miene sagte er: »Warte hier«, und eilte dann wieder um die Ecke.
»Lass dich nicht erwischen!«, rief Liesel ihm nach, aber er hörte es schon nicht mehr.
Die Minuten, in denen er weg war, waren schwer.
Die Dunkelheit war mittlerweile vollkommen, und Liesel war sich ziemlich sicher, dass zu Hause eine Abreibung auf sie wartete. »Beeil dich«, murmelte sie, aber von Rudi war immer noch nichts zu sehen. In ihrem Geiste hörte sie schon die Polizeisirenen jaulen.
Immer noch nichts.
Erst als sie auf ihren feuchten, schmutzigen Socken zurück zur Kreuzung lief, sah sie ihn kommen. Rudis triumphierendes Gesicht blickte ihr unbeirrt entgegen, während er sich in leichtem Trott näherte. Seine Zähne waren zu einem Grinsen gebleckt, und von seiner Hand baumelten Liesels Schuhe. »Man hätte mich fast umgebracht«, bemerkte er, »aber ich hab’s geschafft.« Er reichte Liesel die Schuhe, und sie ließ sie zu Boden plumpsen.
Dann setzte sie sich und schaute zu ihrem besten Freund hoch. »Danke«, sagte sie.
Rudi verneigte sich. »Es war mir ein Vergnügen.« Er beschloss, sein Glück zu versuchen. »Es hat wohl keinen Sinn, dich um einen Kuss als Belohnung zu bitten, oder?«
»Weil du mir meine Schuhe gebracht hast, die du stehen gelassen hattest?«
»Hast ja recht.« Er hob die Hände und sprach weiter, während sie sich auf den Heimweg machten. Liesel bemühte sich, ihn nicht weiter zu beachten. Nur seinen letzten Satz konnte sie nicht ignorieren. »Ich würde dich wahrscheinlich sowieso nicht küssen wollen – nicht wenn du aus dem Mund so riechst wie deine Schuhe.«
»Du widerst mich an«, erklärte sie und hoffte inständig, dass er nicht den flüchtigen Anflug eines Lächelns sehen konnte, das ihr von den Lippen gefallen war.
In der Himmelstraße schnappte sich Rudi das Buch. Unter einer Straßenlaterne las er den Titel und fragte, wovon es handelte.
Verträumt antwortete Lieseclass="underline" »Nur von einem Mörder.«
»Ist das alles?«
»Es geht auch um einen Polizisten, der den Mörder fangen will.«
Rudi gab ihr das Buch zurück. »Wo wir gerade davon sprechen – ich nehme an, dass wir Prügel beziehen, wenn wir nach Hause kommen. Besonders du.«
»Warum ich?«
»Du weißt schon – wegen deiner Mama.«
»Was ist mit ihr?«
Es ist völlig in Ordnung, wenn man sich selbst über Familienmitglieder beklagt, wenn man über sie herzieht und sie kritisiert, aber wehe, es tut jemand anderes! In diesem Moment stellt man sich hin, strafft die Schultern und beweist absolute Loyalität.
»Stimmt irgendwas nicht mit ihr?«, fragte Liesel und berief sich auf ihr uneingeschränktes Recht, zu einer Familie zu gehören.