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Es dauerte sieben Runden, bis Rudi die richtige Antwort gab.

Doch so richtig ging der Ärger erst einige Tage nach diesem Treffen los.

Rudi entdeckte Deutscher in der Münchener Straße, wie er mit ein paar Freunden den Bürgersteig entlangschlenderte, und verspürte das unbändige Verlangen, einen Stein nach ihm zu werfen. Ihr könnt ruhig fragen, was zum Teufel er sich dabei dachte. Die Antwort lautet: Wahrscheinlich gar nichts. Er würde vermutlich sagen, dass er sich seine von Gott gegebene Freiheit herausnahm, eine Dummheit zu begehen. Entweder das, oder der Anblick von Franz Deutscher verleitete ihn zu dem Wunsch, Selbstmord zu begehen.

Der Stein traf sein Ziel mitten auf dem Rückgrat, allerdings nicht so fest, wie Rudi gehofft hatte. Franz Deutscher wirbelte herum und schaute glücklich drein, als er ihn da stehen sah, mit Liesel, Tommi und Tommis kleiner Schwester Kristina.

»Lass uns weglaufen«, drängte Liesel, aber Rudi rührte sich nicht.

»Wir sind nicht bei der Hitlerjugend«, erklärte er ihr. Die älteren Jungen waren schon näher gekommen. Liesel blieb bei ihrem Freund, genauso wie der zuckende Tommi und die zarte Kristina.

»Herr Steiner«, ließ sich Franz vernehmen, ehe er Rudi packte und aufs Pflaster warf.

Die Tatsache, dass Rudi aufstand, erboste Deutscher noch mehr. Er schickte ihn ein weiteres Mal zu Boden, gefolgt von einem Tritt in die Rippen.

Wieder stand Rudi auf, und die Gruppe der älteren Jungen fing an, ihren Freund auszulachen. Keine rosigen Aussichten für Rudi. »Lass es ihn doch mal richtig spüren«, sagte der Größte von ihnen zu Deutscher, »oder bringst du das etwa nicht fertig?« Seine Augen waren so blau und kalt wie der Himmel, und seine Worte waren genau die Ermutigung, die Franz Deutscher brauchte. Er wollte, dass Rudi zu Boden ging und auch dort blieb.

Eine größere Gruppe bildete sich um sie, als Rudi einen Schlag auf Franz Deutschers Bauch richtete und ihn vollkommen verfehlte. Gleichzeitig spürte er ein Brennen, als ihn eine Faust in seiner linken Augenhöhle traf. Damit einher ging ein Funkenregen, und er lag unten, bevor er sich dessen überhaupt bewusst war. Wieder erhielt er einen Schlag, auf genau dieselbe Stelle, und er fühlte förmlich, wie die Schwellung gelb, blau und schwarz wurde, alles auf einmal. Drei Lagen aus unbändigem Schmerz.

Die wachsende Menge wartete gierig darauf, ob Rudi noch einmal aufstehen würde. Er tat es nicht. Diesmal blieb er auf dem kalten, nassen Boden liegen, fühlte die klamme Kälte durch seine Kleidung dringen und sich auf seinem Körper ausbreiten.

Die Funken sprühten immer noch vor seinen Augen, und er merkte erst, als es schon zu spät war, dass Franz jetzt mit einem nagelneuen Taschenmesser über ihm stand. Er beugte sich über ihn und ließ das Messer aufblitzen.

»Nein!«, schrie Liesel, aber der große Kerl hielt sie fest. In ihren Ohren klangen seine Worte tief und alt.

»Keine Sorge«, versicherte er ihr. »Er tut’s nicht. Er hat nicht den Mut dazu.«

Er irrte sich.

Franz ließ sich auf die Knie nieder, beugte sich näher zu Rudi und fragte: »Wann wurde unser Führer geboren?« Jedes Wort wurde mit Sorgfalt erschaffen und in sein Ohr geschoben. »Komm schon, Rudi, wann wurde er geboren? Du kannst es mir sagen, alles in Ordnung, keine Angst.«

Und Rudi?

Was erwiderte er?

Antwortete er besonnen, oder ließ er zu, dass ihn seine Dummheit noch tiefer in den Schlamassel zog?

Er blickte Franz Deutscher in die blassblauen Augen und flüsterte.

»Ostermontag.«

Innerhalb weniger Sekunden hatte das Messer seine Schuldigkeit in Rudis Haaren getan. Es war der zweite kostenlose Haarschnitt, den Liesel erlebte. Die Haare des Juden waren mit einer rostigen Schere geschnitten worden. Ihrem besten Freund wurden sie mit einem schimmernden Messer abgesäbelt. Liesel fiel in diesem Augenblick niemand ein, der je für einen Haarschnitt bezahlt hätte.

Was Rudi betraf, so hatte er in diesem Jahr Schlamm geschluckt, in Dung gebadet, war von einem Jung-Kriminellen fast erwürgt worden und erlebte nun das, was man als i-Tüpfelchen bezeichnen könnte – eine öffentliche Demütigung auf der Münchener Straße.

Seine Stirnfransen ließen sich größtenteils widerspruchslos abtrennen, aber bei jedem Schnitt waren auch ein paar Haare dabei, die um ihr Leben kämpften und als Dank dafür ausgerissen wurden. Bei jedem Ruck zuckte Rudi zusammen. Sein blaues Auge pochte, und seine Rippen brannten vor Schmerz.

»Zwanzigster April achtzehnhundertneunundachtzig!«, belehrte ihn Deutscher. Dann führte er sein Gefolge davon. Auch das Publikum verschwand, und zurück blieben nur Liesel, Tommi und Kristina. Und Rudi.

Er lag still auf dem Boden, aus dem Feuchtigkeit aufstieg.

Was uns zur dritten Dummheit führt – sein Fernbleiben von der Hitlerjugend.

Er hörte nicht sofort auf hinzugehen. Er wollte Deutscher beweisen, dass er keine Angst vor ihm hatte. Aber nach ein paar Wochen beendete Rudi seine Teilnahme gänzlich.

Stolz gewandet in seine Uniform ging er hinaus auf die Himmelstraße, ließ sie hinter sich und lief immer weiter, stets gefolgt von seinem Getreuen, Tommi.

Statt dem HJ-Treffen beizuwohnen, spazierten sie aus der Stadt hinaus und die Amper entlang, ließen Kiesel übers Wasser hüpfen, wuchteten große Steine platschend hinein und stellten noch allerlei anderen Unfug an. Er sorgte dafür, dass seine Uniform schmutzig genug wurde, um seine Mutter zu täuschen – bis der erste Brief ins Haus flatterte. An diesem Tag kam es zu der gefürchteten Aussprache in der Küche.

Zunächst drohten ihm seine Eltern. Er weigerte sich.

Dann flehten sie ihn an. Er verneinte.

Schließlich war es die Gelegenheit, sich einer anderen Gruppe anzuschließen, die Rudi wieder auf den rechten Pfad zurückbrachte. Das war ein Glück, denn wenn er sich nicht bald wieder hätte blicken lassen, hätten die Steiners ein Bußgeld für seine Abwesenheit zahlen müssen. Sein älterer Bruder Kurt fragte Rudi, ob er Lust hätte, sich der Fliegereinheit anzuschließen, die sich auf Flugzeuge und den Luftkampf spezialisiert hatte. Die meiste Zeit bauten sie Modellflugzeuge, und es gab dort keinen Franz Deutscher. Rudi akzeptierte, und auch Tommi trat bei. Es war das erste und einzige Mal, dass Rudis dämliches Verhalten eine Veränderung zum Besseren provoziert hatte.

Wenn ihm jemand in der neuen Einheit die berühmt-berüchtigte Führer-Geburtstagsfrage stellte, lächelte Rudi und antwortete: »20. April 1889.« Dann flüsterte er Tommi ein anderes Datum zu, etwa Beethovens Geburtstag oder den von Mozart oder Strauss. Sie hatten die Komponisten in der Schule durchgenommen, wo Rudi – trotz seiner augenscheinlichen Dummheit – zu den besten Schülern gehörte.

DAS TREIBENDE BUCH (Teil 2)

Anfang Dezember errang Rudi endlich einen Sieg, wenn auch einen ungewöhnlichen.

Es war ein kalter Tag, aber sehr still. Beinahe hätte es geschneit.

Nach der Schule schauten Liesel und Rudi in Alex Steiners Geschäft vorbei, und auf dem Heimweg sahen sie Rudis alten Freund Franz Deutscher um die Ecke biegen. Liesel hatte, wie immer dieser Tage, den Pfeifer dabei. Sie genoss es, das Buch in ihrer Hand zu fühlen. Den glatten Rücken oder die harten Kanten des Papiers. Sie war es, die Franz zuerst bemerkte.

»Schau mal.« Sie zeigte mit dem Finger. Deutscher schlenderte beschwingt in Gesellschaft eines anderen Hitlerjugend-Anführers auf sie zu.

Rudi sank in sich zusammen. Er betastete sein heilendes Auge. »Nicht heute.« Er suchte die Straßen ab. »Wenn wir an der Kirche vorbeigehen, können wir dem Fluss folgen und dann da vorne wieder auf die Straße zurückkehren.«

Ohne ein weiteres Wort folgte Liesel ihm, und es gelang ihnen, Rudis Feind zu umgehen – nur um geradewegs einem anderen in den Weg zu laufen.

Zunächst dachten sie sich nichts dabei.

Die Kerle, die von der Brücke kamen und Zigaretten rauchten, hätten irgendwelche Jungen sein können. Es war zu spät zum Umkehren, als beide Seiten einander erkannten.