Bei ihrer Ankunft waren die Bissspuren des Schnees auf ihren Händen und das frostige Blut auf ihren Fingern noch deutlich sichtbar. Alles an ihr war unterernährt. Drahtdünne Schienbeine. Arme, hager wie Kleiderbügel. Sie zeigte es nicht oft, aber wenn es herausbrach, war auch ihr Lächeln am Verhungern.
Ihre Haarfarbe näherte sich dem Blond, das als Kennzeichen des Deutschtums galt, aber sie hatte gefährliche Augen. Dunkelbraun. Zu jener Zeit mochte man in Deutschland keine braunen Augen. Vielleicht hatte sie die von ihrem Vater geerbt, aber wissen konnte sie es nicht; sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Es gab nur eine einzige Sache, die sie von ihrem Vater wusste, ein Etikett, das sie nicht verstand.
Kommunist
Sie hatte es in den vergangenen Jahren einige Male gehört.
»Kommunist.«
Da waren Pensionen, vollgestopft mit Menschen, Zimmer, vollgestopft mit Fragen. Und dieses Wort. Das merkwürdige Wort war immer da, irgendwo in der Nähe, stand in der Ecke, lauerte im Schatten. Es trug Anzüge und Uniformen. Egal wohin sie gingen, es war da, sobald die Sprache auf ihren Vater kam. Sie konnte es riechen und schmecken. Sie konnte es nur nicht buchstabieren und auch nicht begreifen. Wenn sie ihre Mutter fragte, was es bedeutete, wurde ihr gesagt, dass es nicht wichtig sei, dass sie sich über diese Sachen keine Sorgen machen solle. In einer Pension gab es eine Frau, die kräftiger und gesünder war als die anderen und die versuchte, den Kindern das Schreiben beizubringen, indem sie mit Kohle auf Wände malte. Liesel hätte sie zu gerne nach der Bedeutung jenes Wortes gefragt, aber es bot sich einfach nie die Gelegenheit. Eines Tages holte man die Frau zum Verhör. Sie kehrte nicht zurück.
Als Liesel in Molching eintraf, hatte sie zumindest eine Ahnung, dass sie gerettet war, aber das war ihr kein Trost. Wenn ihre Mutter sie liebte, warum setzte sie sie dann vor der Haustür von Fremden aus? Warum? Warum?
Warum?
Der Umstand, dass sie die Antwort kannte – wenn auch nur in groben Zügen -, war unwichtig. Ihre Mutter war ständig krank, und es war nie genug Geld da, um sie gesund zu machen. Liesel wusste das. Aber das hieß nicht, dass sie es auch akzeptieren musste. Auch wenn ihr immer wieder gesagt worden war, dass sie geliebt wurde, so gab es für sie keinen Grund, den Beweis dafür in der Tatsache zu sehen, dass sie zurückgelassen worden war. Nichts konnte etwas daran ändern, dass sie ein verlorenes, hageres Kind an einem weiteren fremden Ort war, mit noch mehr fremden Menschen. Allein.
Die Hubermanns lebten in einem der kleineren Häuser in der Himmelstraße. Eine Handvoll Zimmer, eine Küche und ein Toilettenhäuschen hinter dem Haus, das sie sich mit den Nachbarn teilten. Das Dach war flach, und es gab einen niedrigen Keller, wo Vorräte aufbewahrt wurden. Der Keller war wirklich sehr niedrig. 1939 war das noch kein Problem. Später, 1942 und’43, wurde es zu einem. Als die Luftangriffe begannen, mussten sie immer die Straße hinunterlaufen, bis sie zu einem geeigneten Schutzraum kamen.
Am Anfang war es das Fluchen, das den größten Eindruck auf Liesel machte. Es war so heftig und maßlos. Jedes zweite Wort war entweder Saumensch oder Saukerl oder Arschloch.
»Saumensch, du dreckiges!«, schrie Liesels Pflegemutter an jenem ersten Abend, als das Mädchen sich weigerte, ein Bad zu nehmen. »Du dreckiges Schwein! Warum willst du dich nicht ausziehen?« Zu wüten war eine ihrer großen Stärken. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Rosa Hubermanns Gesicht permanent mit Wut bekleidet war. So waren die Knitter und Falten in ihrer Pappkartonhaut entstanden.
Liesel ihrerseits war in Angst gebadet. Auf keinen Fall würde sie in die Wanne steigen und erst recht nicht in ein Bett. Sie hatte sich in eine Ecke des wandschrankengen Badezimmers geklemmt und tastete nach nicht vorhandenen Armen an der Wand, an denen sie sich festhalten konnte. Aber da war nichts außer der Wandfarbe, gepressten Atemzügen und der Sintflut aus Rosas Beschimpfungen.
»Lass sie in Ruhe.« Hans Hubermann betrat die Szene. Seine sanfte Stimme bahnte sich den Weg hinein, als ob sie durch eine Menschenmenge schlüpfte. »Überlass sie mir.«
Er kam näher und setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Die Kacheln waren kalt und unfreundlich.
»Weißt du, wie man Zigaretten dreht?«, fragte er sie, und in der nächsten Stunde saßen sie in dem aufsteigenden Teich aus Dunkelheit, spielten mit Tabak und Zigarettenpapierchen. Hans Hubermann rauchte ihre selbst gedrehten Zigaretten.
Als die Stunde vorbei war, konnte Liesel eine halbwegs anständige Zigarette drehen. Ein Bad nahm sie noch immer nicht.
Er rauchte gern.
Was er am Rauchen am meisten mochte,
war das Drehen der Zigaretten.
Er war Anstreicher von Beruf, und er spielte Akkordeon.
Das war ganz nützlich, besonders im Winter, wenn er ein
bisschen Geld verdienen konnte, indem er in den Kneipen
von Molching spielte, im »Knoller« beispielsweise.
Er war mir bereits in einem Weltkrieg aus dem Weg
gegangen, sollte aber später in einen zweiten geschickt
werden (als eine perverse Art von Belohnung), wo er es
irgendwie schaffte, sich mir ein weiteres Mal zu entziehen.
Für die meisten Menschen war Hans Hubermann kaum sichtbar. Ein un-besonderer Mensch. Seine Fähigkeiten als Anstreicher waren zweifellos exzellent. Sein Können als Musiker war überdurchschnittlich. Und doch war er irgendwie in der Lage – und ich bin mir sicher, dass auch euch schon solche Menschen begegnet sind -, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, selbst wenn er in vorderster Reihe stand. Er war immer nur da. Nicht auffällig. Nicht wichtig oder besonders wertvoll.
Das Gute an diesem Eindruck war, dass er täuschte. Denn Hans Hubermann war wertvoll, und Liesel Meminger erkannte dies. (Das Menschenkind – manchmal viel schlauer als der unfassbar schwerfällige Erwachsene.) Sie bemerkte es sofort.
Seine Haltung.
Die Ruhe, die ihn umgab.
Als er an jenem Abend das Licht in dem kleinen, lieblos wirkenden Badezimmer einschaltete, betrachtete Liesel die außergewöhnlichen Augen ihres Pflegevaters. Sie waren aus Freundlichkeit gemacht und aus Silber. Weiches Silber, schmelzend. Liesel sah diese Augen und begriff, dass Hans Hubermann sogar eine ganze Menge wert war.
Sie war 1,55 Meter groß und trug die braungrauen Strähnen