»O nein, sie haben uns gesehen.«
Viktor Chemmel lächelte.
Er sprach sehr freundlich. Was nichts anderes bedeutete, als dass er umso gefährlicher war. »Schau an, wenn das mal nicht der Rudi Steiner mit seiner kleinen Hure ist.« Mit federnden Schritten kam er auf sie zu und entwand Liesel das Buch. »Was lesen wir denn da?«
»Das ist doch eine Sache zwischen uns beiden.« Rudi versuchte es mit Vernunft. »Mit ihr hat das nichts zu tun. Komm schon, gib es ihr zurück.«
»Der Pfeifer.« Er sprach jetzt zu Liesel. »Ist es gut?«
Sie räusperte sich. »Nicht schlecht.« Unglücklicherweise verriet sie sich. Mit ihren Augen. Sie waren in Aufruhr. Sie konnte den genauen Moment benennen, in dem Viktor Chemmel erkannte, dass das Buch einen unschätzbaren Besitz darstellte.
»Ich sag dir was«, erklärte er. »Für fünfzig Mark kannst du es wiederhaben.«
»Fünfzig Mark!« Das war Andi Schmeikl. »Komm schon, Viktor, für fünfzig Mark kann man tausend Bücher kaufen.«
»Habe ich dich gefragt?«
Andi verstummte. Sein Mund klappte zu.
Liesel versuchte es mit einem gelassenen, unbeteiligten Gesicht. »Du kannst es behalten. Ich habe es schon gelesen.«
»Wie geht es denn aus?«
Verdammt!
So weit war sie noch nicht gekommen.
Sie zögerte, und Viktor Chemmel durchschaute sie sofort.
Rudi bekniete ihn. »Ach komm, Viktor, tu ihr das nicht an. Du bist doch hinter mir her. Ich tue alles, was du willst.«
Der ältere Junge schob ihn einfach zur Seite, das Buch hoch in der Luft am Ende des ausgestreckten Arms. Und er korrigierte Rudis Aussage.
»Nein«, sagte er. »Ich tue alles, was ich will.« Und mit diesen Worten ging er aufs Ufer zu. Alle folgten ihm, begierig, ihn einzuholen. Halb laufend, halb rennend. Einige protestierten, andere feuerten ihn an.
Es war so rasch und so entspannt. Eine Frage und eine spöttisch-freundliche Stimme.
»Wer«, sagte Viktor Chemmel, »war der letzte Olympiasieger im Diskuswurf, bei der Olympiade in Berlin?« Er drehte sich um und schaute sie an. Er wärmte die Muskeln in seinem Arm auf. »Wer war das doch gleich? Herrgott nochmal! Es liegt mir auf der Zunge. Es war dieser Amerikaner, nicht wahr? Carpenter oder so ähnlich...«
»Bitte!« – Rudi.
Das Wasser kippte.
Viktor Chemmel wirbelte um die eigene Achse.
Ruhmreich löste sich das Buch aus seiner Hand. Es öffnete sich und flatterte. Die Seiten raschelten, als es in der Luft an Fahrt gewann. Jäher als erwartet hielt es inne und schien vom Wasser angezogen zu werden. Klatschend traf es auf die Oberfläche und wurde flussabwärts getrieben.
Viktor schüttelte den Kopf. »Nicht genug Höhe. Ein schlechter Wurf.« Er lächelte wieder. »Aber gut genug, um zu gewinnen, was?«
Liesel und Rudi verweilten nicht, um sich das Gelächter anzuhören.
Rudi lief schon am Flussufer entlang und versuchte, das Buch auszumachen.
»Kannst du es sehen?«, rief Liesel ihm zu.
Rudi rannte.
Er trat ans Wasser und zeigte ihr, wo das Buch an der Oberfläche trieb. »Da!« Er blieb stehen und deutete und rannte dann weiter, um es zu überholen. Kurz darauf schälte er sich aus dem Mantel, sprang ins Wasser und watete mitten in den Fluss hinein.
Liesel, die ihre Schritte verlangsamte, sah, wie ihm jeder Schritt wehtat. Diese schmerzhafte Kälte.
Als sie nahe genug war, erkannte sie, dass das Buch an ihm vorbeitrieb, aber er holte es ein. Seine Hand schoss nach vorn und sammelte den tropfnassen Klotz aus Pappe und Papier ein. »Der Pfeifer!«, rief der Junge aus. Es war das einzige Buch, das an diesem Tag in der Amper schwamm. Er hatte dennoch das Bedürfnis, den Titel zu verkünden.
Nebenbei bemerkt – für alle, die es interessiert -, stieg Rudi nicht sofort aus dem Wasser, nachdem er das Buch herausgefischt hatte. Er blieb noch etwa eine Minute dort stehen. Er lieferte Liesel keine Erklärung für sein Verhalten, aber ich glaube, sie wusste, dass es zwei Gründe dafür gab.
1. Nach Monaten voller Niederlagen war dieser Moment die einzige Gelegenheit für ihn, sich in einem Sieg zu sonnen.
2. Ein Ort, an dem er einen solchen Akt der Selbstlosigkeit begangen hatte, war bestens geeignet, um Liesel die übliche Frage zu stellen. Wie sollte sie ihn da noch abweisen?
»Wie wär’s mit einem Kuss, Saumensch?«
Er stand bis zur Hüfte im Wasser, verweilte noch ein paar Augenblicke und kletterte dann hinaus und reichte ihr das Buch. Seine Hose klebte an seiner Haut, trotzdem ging er weiter. In Wahrheit hatte er wohl Angst. Rudi Steiner hatte Angst vor dem Kuss der Bücherdiebin. Er sehnte sich so sehr danach. Er liebte sie so unbändig. So unbändig, dass er niemals wieder um ihre Lippen bat und ohne sie ins Grab gehen würde.
TEIL 6
DER TRAUMTRÄGER
Es wirken mit:
das Tagebuch des Todes – der Schneemann – dreizehn
Geschenke – das nächste Buch – der Albtraum von der
jüdischen Leiche – ein Zeitungshimmel – ein Besucher –
ein Schmunzler – und ein letzter Kuss auf vergiftete Wangen
DAS TAGEBUCH DES TODES: 1942
Es war ein denkwürdiges Jahr, wie 79 nach Christus oder 1346, um nur zwei zu nennen. Vergesst die Sense – ich hätte einen Besen oder einen Wischmopp gebraucht. Oder Urlaub.
Ich habe keine Sense.
Ich trage nur dann einen schwarzen Kapuzenmantel,
wenn es kalt ist.
Ich habe auch kein Totenschädelgesicht,
das ihr mir so gerne andichtet.
Wollt ihr wissen, wie ich wirklich aussehe?
Ich sage es euch. Schaut in einen Spiegel.
Ich fühle mich regelrecht ein bisschen maßlos und selbstzufrieden, wenn ich euch so viel von mir erzähle. Über meine Reisen, was ich im Jahr 1942 gesehen habe... Andererseits seid ihr Menschen; ihr dürftet Selbstsucht kennen. Aber es gibt einen Grund, warum ich euch erzähle, was ich in dieser Zeit erlebte. Vieles davon würde später Einfluss auf Liesel Memingers Leben haben. Der Krieg rückte näher auf die Himmelstraße zu und zog mich dabei mit sich.
In diesem Jahr musste ich etliche Runden drehen, von Polen nach Russland nach Afrika und wieder zurück. Ihr könntet jetzt behaupten, dass ich diese Reisen ohnehin machen müsste, egal welches Jahr gerade ist, aber manchmal neigt die menschliche Rasse dazu, die Dinge ein wenig zu beschleunigen. Sie erhöht die Anzahl der Leichen und ihrer entschwindenden Seelen. Ein paar Bomben reichen gewöhnlich aus. Oder ein Dutzend Gaskammern oder das Knattern von Gewehrfeuer. Wenn die Menschen trotz dieser Umstände überleben, so sind sie doch meist ihrer Behausungen beraubt. Dann begegnen mir überall die Heimatlosen. Sie kommen mir nach, wenn ich durch die Straßen der misshandelten Städte gehe. Sie flehen mich an, sie mitzunehmen, und merken nicht, dass ich ohnehin schon genug zu tun habe. »Eure Zeit wird kommen«, versichere ich ihnen dann und versuche, nicht zurückzuschauen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte ihnen erklären, wie viel Arbeit ich schon habe, aber das tue ich nicht. Niemals. Ich beklage mich nur im Stillen, während ich meine Aufgabe erledige. In bestimmten Jahren kann man jedoch nicht mehr davon sprechen, dass sich die Toten lediglich summieren; ihre Zahl steigt ins Unermessliche.