1. Die verzweifelten Juden – ihre Seelen in meinem Schoß, während wir auf dem Dach sitzen, neben den rauchenden Schornsteinen.
2. Die russischen Soldaten – nur mit wenig Munition im Gepäck und zuversichtlich, die Kugeln der Gefallenen aufsammeln zu können.
3. Die durchtränkten Körper an der französischen Küste – angespült auf Kies und Sand.
Ich könnte so weitermachen, aber ich denke, dass für den Moment drei Beispiele reichen. Sie sollen genügen, um euch einen Eindruck von dem Geschmack nach Asche zu vermitteln, der in diesem Jahr mein Dasein begleitete.
So viele Menschen.
So viele Farben.
Sie lösen sich beständig in mir auf. Sie piesacken meine Erinnerung. Ich sehe sie in hohen Haufen aufeinanderliegen. Die Luft ist wie Plastik, der Horizont wie angetrockneter Kleister. Himmel, die von Menschen gemacht sind, durchstochen und leck, und die weichen, kohlefarbenen Wolken, die wie schwarze Herzen schlagen.
Und dann.
Ist da der Tod.
Der sich seinen Weg durch alles bahnt.
Äußerlich: unerschütterlich, unbeirrt.
Innerlich: zermürbt, zerfahren, zunichtegemacht.
Um die Wahrheit zu sagen (und mir ist klar, dass ich jetzt wirklich anfange zu jammern), war ich noch nicht über Stalin in Russland hinweg. Über die sogenannte Zweite Revolution – den Mord an seinem eigenen Volk.
Dann kam Hitler.
Man sagt, dass der Krieg der beste Freund des Todes ist, aber da muss ich euch berichtigen. Für mich ist der Krieg wie ein neuer Vorgesetzter, der Unmögliches von einem erwartet. Er steht hinter einem und wiederholt immer nur das eine: »Erledige dies, erledige das.« Also arbeitet man härter. Man erledigt dies und das. Aber der Vorgesetzte dankt es einem nicht. Er verlangt nur noch mehr.
Oft versuche ich, mich an die verstreuten Eindrücke von Schönheit zu erinnern, die ich manchmal in dieser Zeit sah. Ich durchforsche meine Bibliothek der Geschichten.
Genau in diesem Augenblick greife ich nach einer.
Ich denke, die Hälfte der Geschichte kennt ihr bereits, und wenn ihr mich begleitet, werde ich euch auch noch den Rest zeigen. Ich zeige euch die zweite Hälfte der Bücherdiebin.
Ahnungslos wartet sie auf die zahlreichen Ereignisse, die ich euch gerade angedeutet habe, aber sie wartet auch auf euch.
Sie bringt Schnee in den Keller, ausgerechnet dorthin.
Ein Haufen gefrorenes Wasser kann beinahe jeden zum Lächeln bringen, aber nicht dazu zu vergessen.
Hier kommt sie.
DER SCHNEEMANN
In Bezug auf Liesel Meminger konnten die Anfänge des Jahres 1942 wie folgt zusammengefasst werden:
Sie wurde dreizehn Jahre alt. Ihre Brust war immer noch flach. Sie hatte noch nicht ihre Periode bekommen. Der junge Mann aus dem Keller lag jetzt in ihrem Bett.
Wie landete
Max Vandenburg
in Liesels Bett?
Er fiel.
Die Meinungen hierzu gingen auseinander, aber Rosa Hubermann behauptete, dass die Ursache an Weihnachten zu suchen war.
Der 24. Dezember war hungrig und kalt gewesen, aber er brachte auch Erleichterung – nämlich keine ausgedehnten Besuche. Hans junior schoss auf die Russen und bewahrte gleichzeitig seine Distanz zur Familie. Trudi konnte nur für ein paar Stunden am Wochenende vor Weihnachten vorbeikommen. Sie fuhr mit der Familie, für die sie arbeitete, weg. Urlaub, ein Ereignis, das nur eine ganz bestimmte Klasse Deutschlands erleben durfte.
An Heiligabend brachte Liesel ein paar Handvoll Schnee in den Keller, als Geschenk. »Mach die Augen zu«, sagte sie. »Streck die Hände aus.« Sobald der Schnee darauf abgelegt war, zitterte Max und lachte, aber er machte die Augen nicht auf. Er schmeckte nur kurz den Schnee und ließ ihn in die Haut auf seinen Lippen sinken.
»Ist das der heutige Wetterbericht?«
Liesel stand neben ihm.
Sanft berührte sie ihn am Arm.
Wieder hob er den Schnee an den Mund. »Danke, Liesel.«
Es war der Beginn des großartigsten Weihnachtsfestes überhaupt. Wenig zu essen. Keine Geschenke. Aber im Keller stand ein Schneemann.
Nachdem sie die erste Portion Schnee abgeliefert hatte, versicherte sich Liesel, dass niemand in der Nähe war, und schleppte dann so viele Eimer und Töpfe nach draußen, wie sie finden konnte. Sie füllte sie mit den Hügeln aus Schnee und Eis, die den schmalen Streifen Welt bedeckten, der Himmelstraße genannt wurde. Als die Behälter voll waren, brachte sie sie ins Haus und trug sie in den Keller.
Zugegeben – als Erstes warf sie einen Schneeball auf Max und steckte ihrerseits einen Wurf in den Bauch ein. Max warf sogar einen Schneeball auf Hans Hubermann, der gerade die Kellertreppe herunterkam.
»Saukerl!«, japste Papa. »Liesel, gib mir mal eine Handvoll Schnee. Nein, gleich einen ganzen Eimer!« Ein paar Minuten lang vergaßen sie. Es wurde zwar nicht geschrien oder gerufen, aber die kleinen Lachsalven, die herausplatzten, konnte keiner der drei unterdrücken. Sie waren nur Menschen, die im Schnee spielten. Im Innern eines Hauses.
Papa schaute auf die mit Schnee gefüllten Behältnisse. »Was machen wir mit dem Rest?«
»Einen Schneemann«, antwortete Liesel. »Wir bauen einen Schneemann.«
Papa rief Rosa herbei.
Wie üblich wurde ihm aus der Ferne ihre Stimme entgegengeschleudert. »Was ist, Saukerl?«
»Komm mal bitte her.«
Als seine Frau erschien, riskierte Hans Hubermann Kopf und Kragen und zielte mit einem vollkommen runden Schneeball auf sie. Er verfehlte sie um Haaresbreite, und das Wurfgeschoss löste sich auf, als es auf die Wand traf. Mama hatte nun einen Grund, lange und ausgiebig zu fluchen, ohne Atem zu holen. Nachdem sie sich wieder erholt hatte, half sie den anderen. Sie holte sogar Knöpfe für die Augen und die Nase und etwas Schnur für ein Schneemann-Lächeln. Selbst ein Schal und ein Hut wurden herbeigezaubert für den Schneemann, der gerade mal sechzig Zentimeter hoch war.
»Ein Zwerg«, sagte Max.
»Was machen wir, wenn er schmilzt?«, fragte Liesel.
Rosa hatte die Antwort parat. »Dann wischst du hier auf, Saumensch, aber dalli!«
Papa schüttelte den Kopf. »Der schmilzt nicht.« Er rieb sich die Hände und blies dagegen. »Hier unten ist es eiskalt.«
Doch die Schmelze setzte ein – allerdings im Innern der vier Menschen. Der Schneemann stand unverändert da. Es war wohl das Letzte, was sie vor sich sahen, als sie an diesem Weihnachtsabend einschliefen. Das Akkordeon war in ihren Ohren, der Schneemann in ihren Augen, und Liesels Gedanken galten den letzten Worten von Max, ehe sie ihn am Kamin zurückließ und in ihr Zimmer ging.
»Ich habe mir oft gewünscht, dass dies alles vorbei wäre,
Liesel, aber dann kommst du die Kellertreppe herunter und
hältst einen Schneemann in deinen Händen.«
Unglücklicherweise läutete diese Nacht eine dramatische Verschlechterung von Max’ Gesundheit ein. Die ersten Anzeichen schienen harmlos und waren doch so typisch. Das ständige Gefühl von Kälte. Schwimmende Hände. Immer häufiger Visionen des Boxkampfs mit dem Führer. Erst als er selbst nach seinen Liegestützen und den anderen Übungen nicht mehr warm wurde, fing er an, sich Sorgen zu machen. Und egal wie nahe er sich ans Kaminfeuer setzte, sein Zustand verbesserte sich nicht. Tag für Tag floh das Gewicht von seinem Körper. Seine Übungseinheiten zerstreuten sich und desertierten, ließen ihn mit der Wange auf dem übel gesinnten Kellerboden allein zurück.