Den ganzen Januar hindurch schaffte er es, sich irgendwie aufrecht zu halten, aber Anfang Februar wurde seine Lage ernst. Er hatte Mühe, am Morgen aufzuwachen und in den Keller zu gehen, und verschlief oft. Sein Mund war verzerrt, und seine Wangenknochen begannen anzuschwellen. Wenn man ihn fragte, behauptete er, es ginge ihm gut.
Mitte Februar, ein paar Tage vor Liesels dreizehntem Geburtstag, kam er zum Kamin und war einer Ohnmacht nahe. Er fiel fast ins Feuer.
»Hans«, flüsterte er, und sein Gesicht verkrampfte sich. Seine Beine gaben nach, und sein Kopf schlug gegen den Akkordeonkasten.
Ein Holzlöffel fiel in die Suppe, und in Sekundenbruchteilen war Rosa Hubermann neben ihm. Sie hielt Max’ Kopf und kläffte Liesel quer durch den Raum an: »Steh nicht einfach so da! Geh, hol ein paar Decken! Bring sie in dein Zimmer, auf dein Bett damit. Und du!« Papa war als Nächstes dran. »Hilf mir, ihn hochzuheben und ihn zu Liesel zu tragen. Schnell!«
Papas Gesicht war vor Sorge verzerrt. Seine grauen Augen klirrten, und er hob Max ganz alleine hoch. Der Jude war so leicht wie ein Kind. »Kann er nicht hierbleiben, in unserem Bett?«
Rosa hatte bereits daran gedacht. »Nein. Wir müssen die Vorhänge tagsüber offen lassen, sonst schöpft jemand Verdacht.«
»Du hast recht.« Hans trug ihn hinaus.
Mit den Decken in der Hand schaute Liesel zu.
Schlaffe Füße und baumelndes Haar im Flur. Ein Schuh war ihm vom Fuß gefallen.
»Beeil dich!«
Mama marschierte mit ihrem Watschelgang hinter ihnen her.
Max lag im Bett und wurde unter Decken begraben, die fest um seinen Körper gelegt wurden.
»Mama?«
Mehr brachte Liesel nicht heraus.
»Was?« Der Knoten, zu dem Rosa Hubermann ihre Haare am Hinterkopf festgesteckt hatte, war straff genug, um einem Angst einzujagen. Er schien sich noch stärker festzuziehen, als sie die Frage wiederholte. »Was, Liesel?«
Sie trat näher und fürchtete sich vor der Antwort. »Ist er am Leben?«
Rosa drehte sich zu ihr um und sagte mit größter Bestimmtheit: »Hör mal zu, Liesel. Ich habe diesen Mann nicht unter meinem Dach aufgenommen, um ihn sterben zu lassen. Verstanden?«
Liesel nickte.
»Jetzt raus mit dir.«
Im Flur umarmte Papa sie.
Das hatte sie nötig gehabt.
Später in der Nacht hörte sie Hans und Rosa miteinander sprechen. Rosa wollte, dass Liesel bei ihnen schlief, und sie lag neben dem Bett ihrer Pflegeeltern auf dem Boden, auf der Matratze, die sie aus dem Keller geholt hatten. (Zunächst hatten sie sich Sorgen gemacht, ob von der Matratze eine Ansteckungsgefahr ausging, aber sie kamen zu dem Schluss, dass solche Befürchtungen unbegründet waren. Max litt nicht an einer Virusinfektion, und so trugen sie die Matratze hinauf und wechselten lediglich das Laken.)
Mama glaubte, Liesel würde schlafen, und so sprach sie frei heraus.
»Dieser verdammte Schneemann«, raunte sie. »Ich wette, damit hat es angefangen – mit Eis und Schnee unten im Keller Unfug zu treiben, wo es ohnehin schon so kalt ist!«
Papa hatte einen eher philosophischen Ansatz. »Rosa, es hat mit Hitler angefangen.« Er setzte sich auf. »Wir sollten mal nach ihm sehen.«
Im Laufe der Nacht erhielt Max sieben Mal Besuch.
Hans Hubermann: 2 x
Rosa Hubermann: 2 x
Liesel Meminger: 3 x
Am nächsten Morgen holte Liesel sein Skizzenbuch aus dem Keller und legte es auf den Nachttisch. Sie hatte ein fürchterlich schlechtes Gewissen, weil sie damals unerlaubt hineingeschaut hatte, und hielt es diesmal aus Respekt fest verschlossen.
Papa kam herein, aber sie drehte sich nicht um, sondern sprach stattdessen über Max Vandenburg hinweg gegen die Wand. »Warum habe ich bloß den ganzen Schnee nach unten gebracht?«, fragte sie. »Damit hat alles angefangen, nicht wahr, Papa?« Sie faltete die Hände, als wollte sie beten. »Warum musste ich nur diesen Schneemann bauen?«
Ehre, wem Ehre gebührt: Papa blieb unerschütterlich. »Liesel«, sagte er, »du musstest es tun.«
Stundenlang saß sie bei ihm, während er zitterte und schlief.
»Stirb nicht«, flüsterte sie. »Bitte, Max, stirb nur nicht.«
Er war der zweite Schneemann, der vor ihren Augen dahinschmolz, aber dieser war anders. Er war ein Paradox.
Je kälter er wurde, desto mehr schmolz er.
DREIZEHN GESCHENKE
Es war, als würde Liesel Max’ Ankunft noch einmal erleben, nur in umgekehrter Reihenfolge.
Federn verwandelten sich wieder in Geäst. Ein weiches Gesicht wurde rau und kratzig. Das war der Beweis, den sie haben wollte: Er war am Leben.
Während der ersten paar Tage war sie bei ihm und redete mit ihm. An ihrem Geburtstag erzählte sie ihm, dass in der Küche ein riesiger Kuchen auf ihn wartete, wenn er nur aufwachen würde.
Es gab kein Aufwachen.
Es gab keinen Kuchen.
Viel später wurde mir klar, dass ich während dieser Zeit
die Himmelstraße 33 aufgesucht haben muss.
Es muss in einem der wenigen Momente gewesen sein,
als das Mädchen nicht bei ihm war, denn alles, was ich sah,
war ein Mann in einem Bett. Ich kniete nieder.
Ich machte mich bereit, meine Hände in die Decken
einzutauchen. Dann spürte ich ein starkes Wiederaufleben -
einen kraftvollen Kampf gegen mein Gewicht.
Ich zog mich zurück. Bei der ganzen Arbeit, die auf mich
wartete, war es ein Genuss, dass ich in diesem kleinen,
dunklen Raum abgewehrt worden war. Ich hielt kurz inne,
schloss die Augen und gab mich einem Moment
der Gelassenheit und Ruhe hin, ehe ich wieder ging.
Am fünften Tag war die Aufregung groß, als Max – wenn auch nur für einen Moment – die Augen öffnete. Sein Blickfeld wurde fast gänzlich – ein erschreckender Gedanke, noch dazu so nahe – von Rosa Hubermann ausgefüllt, die praktisch einen ganzen Armvoll Suppe in seinen Mund schüttete. »Schlucken«, befahl sie ihm. »Nicht nachdenken. Nur schlucken.« Sobald Mama ihr die Suppentasse gereicht hatte, wollte Liesel einen Blick auf sein Gesicht erhaschen, aber der Rücken der Suppenfütterin war ihr im Weg.
»Ist er noch wach?«
Rosa drehte sich um. Eine Antwort war nicht nötig.
Nach fast einer Woche wachte Max zum zweiten Mal auf. Diesmal waren Liesel und Papa im Zimmer. Beide betrachteten den Körper im Bett, als sich ein leises Stöhnen vernehmen ließ. Papa fiel fast aus dem Stuhl in die Höhe, wenn das möglich gewesen wäre.
»Schau doch«, keuchte Liesel. »Max, bleib wach! Bleib wach!«
Er schaute sie kurz an, aber ohne sie zu erkennen. Die Augen studierten sie, als wäre sie ein Rätsel. Dann waren sie wieder fort.
»Papa, was ist passiert?«
Hans ließ sich wieder in den Stuhl fallen.
Später schlug er vor, dass sie ihm vorlesen solle. »Na komm, Liesel, du bist mittlerweile so gut im Lesen – selbst wenn keiner von uns eine Ahnung hat, woher du dieses Buch hast.«