Ihre Finger umschlossen das Holz, und sie schob sich ins Haus.
Diesmal fühlte sie sich ruhiger, wenn auch nur ein wenig. In nur wenigen kostbaren Momenten huschte sie durch das Zimmer und hielt nach einem Titel Ausschau, der sie fesselte. Drei oder vier Mal hätte sie beinahe zugegriffen. Sie überlegte sogar, ob sie mehr als ein Buch mitnehmen sollte, aber sie wollte ihr System nicht durchbrechen. Im Augenblick war nur ein Buch nötig. Sie betrachtete die Regale und wartete.
Mehr Dunkelheit kam durch das Fenster hinter ihr geklettert. Der Geruch nach Staub und Diebstahl hing im Hintergrund, und dann sah sie es.
Das Buch war rot und hatte auf dem Rücken eine schwarze Schrift. Der Traumträger. Sie dachte an Max Vandenburg und an seine Träume. Von Schuld. Überleben. Verlassen. Kämpfen. Sie dachte auch an ihre eigenen Träume – von ihrem Bruder, tot im Zug -, und sie dachte an sein Auftauchen auf den Stufen dieses Hauses. Die Bücherdiebin sah sein blutiges Knie. Er war gefallen, weil sie ihn gestoßen hatte.
Sie zog das Buch aus dem Regal, steckte es sich unter den Arm, kletterte auf den Fenstersims und sprang hinunter, alles mit einer einzigen, fließenden Bewegung.
Rudi hatte ihre Schuhe. Er hielt ihr Fahrrad bereit. Sie zog die Schuhe an, und sie fuhren los.
»Jesus, Maria und Josef, Meminger.« Er hatte sie noch nie Meminger genannt. »Du hast einen Knall. Weißt du das?«
Liesel nickte, während sie wie wahnsinnig in die Pedale trat. »Ich weiß.«
Auf der Brücke fasste Rudi die Ereignisse des Nachmittags in wenigen Worten zusammen. »Diese Leute sind entweder völlig verrückt«, sagte er, »oder sie können nicht genug Frischluft kriegen.«
Oder vielleicht gab es da eine Frau in der Großen Straße,
die das Fenster der Bibliothek aus einem anderen Grund
offen ließ. Aber das ist nur meine persönliche
zynische – oder hoffnungsvolle – Meinung.
Oder beides.
Liesel kam heim, legte den Traumträger neben ihre Jacke und fing sofort an zu lesen. Sie setzte sich auf den Holzstuhl neben ihrem Bett, öffnete das Buch und flüsterte: »Es ist ein neues Buch, Max. Nur für dich.« Sie fing an: »Kapitel 1. Es war nur recht, dass die ganze Stadt schlief, als der Traumträger geboren wurde …«
Jeden Tag las Liesel zwei Kapitel aus dem Buch vor. Am Morgen, bevor sie zur Schule ging, und sobald sie wieder nach Hause kam. Manchmal konnte sie nachts nicht schlafen und las noch die Hälfte eines dritten Kapitels. Manchmal schlief sie dabei ein, sackte nach vorn auf die Bettkante.
Sie hatte eine Mission.
Sie schenkte Max das Buch, als ob allein die Worte ihn ernähren könnten. An einem Dienstag glaubte sie, eine Bewegung wahrzunehmen. Sie hätte schwören können, dass sich seine Augen geöffnet hätten. Wenn es so war, war es eine Sache von Sekunden. Aber die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es sich nur um Wunschdenken und Einbildung handelte.
Mitte März zeigten sich erste Risse.
Rosa Hubermann, die Frau, die eine Krise meistern konnte, war eines Nachmittags in der Küche einem Zusammenbruch nahe. Sie hob ihre Stimme und senkte sie dann schnell wieder. Liesel hörte auf zu lesen und schlich sich leise in den Flur. Obwohl sie ganz nah vor der Küche stand, konnte sie die Worte ihrer Mama kaum verstehen. Dann wünschte sie sich, sie hätte sie tatsächlich nicht verstanden, denn was sie hörte, war schrecklich. Es war die Wirklichkeit.
»Was, wenn er nicht mehr aufwacht?
Was, wenn er hier stirbt, Hansi?
Sag’s mir. Was in Gottes Namen sollen wir mit der Leiche
machen? Wir können ihn nicht hierlassen. Der Gestank
bringt uns um. Und wir können ihn nicht hinaustragen und
durch die Straße schleppen. Wir können nicht einfach
sagen: Ihr werdet nie erraten, was wir heute Morgen in
unserem Keller gefunden haben.
Die holen uns weg.«
Sie hatte völlig recht.
Eine jüdische Leiche war ein großes Problem. Die Hubermanns mussten Max wiederbeleben, nicht nur um seinetwillen, sondern auch um ihretwillen. Selbst Papa, der stets ruhig blieb, fühlte die Anspannung.
»Hör zu.« Seine Stimme war leise, aber schwer. »Wenn es passiert – wenn er stirbt -, dann müssen wir einfach einen Weg finden.« Liesel glaubte, ihn schlucken zu hören. Ein Würgen, als hätte er einen Schlag gegen die Luftröhre bekommen. »Mein Karren. Ein paar Lumpen …«
Liesel kam in die Küche.
»Nicht jetzt, Liesel.« Es war Papa, der das sagte, wobei er sie nicht anschaute. Er betrachtete sein verformtes Gesicht in der Rückseite eines Löffels. Seine Ellbogen bohrten sich in die Tischplatte.
Die Bücherdiebin trat nicht den Rückzug an. Sie machte ein paar Schritte nach vorn und setzte sich hin. Ihre kalten Hände tasteten nach ihren Ärmeln, und sie ließ einen Satz aus ihrem Mund fallen. »Noch ist er nicht tot.« Die Worte landeten auf dem Tisch und schoben sich in die Mitte. Alle drei schauten sie an. Leise Hoffnung, die nicht höher zu steigen wagte. Noch ist er nicht tot. Noch ist er nicht tot.
Rosa sprach als Nächste.
»Wer hat Hunger?«
Die einzige Zeit, in der Max’ Krankheit nicht schmerzte, war während des Essens. Diese Tatsache ließ sich nicht leugnen, am allerwenigsten, wenn die drei am Küchentisch saßen, mit einer Extraportion Brot, Suppe oder Kartoffeln. Sie alle dachten es, aber keiner sprach es aus.
In der Nacht, nur wenige Stunden später, wachte Liesel auf und wunderte sich, wieso ihr Herz im Himmel hing. (Diesen Ausdruck hatte sie aus dem Traumträger gelernt, der das vollkommene Gegenteil des Pfeifers war – es ging um einen verlassenen Jungen, der Priester werden wollte.) Liesel setzte sich auf und saugte tief die Nachtluft ein.
»Liesel?« Papa drehte sich um. »Was ist los?«
»Nichts, Papa. Alles in Ordnung.« Doch in dem Moment, in dem sie den Satz aussprach, sah sie vor sich, was in ihrem Traum geschehen war.
Das meiste ist so wie immer.
Der Zug fährt mit derselben Geschwindigkeit.
Ihr Bruder hustet ausgiebig. Diesmal allerdings kann Liesel
sein zu Boden gerichtetes Gesicht nicht sehen.
Langsam beugt sie sich vor.
Ihre Hände heben sanft sein Kinn, und da, vor ihr,
ist das großäugige Gesicht von Max Vandenburg.
Er starrt sie an.
Eine Feder fällt zu Boden. Der Körper ist jetzt größer,
passend zum Umfang des Gesichts.
Der Zug kreischt.
»Liesel?«
»Ich sagte, alles in Ordnung.«