Выбрать главу

Zitternd kletterte sie von der Matratze. Benommen vor Angst, ging sie durch den Flur zu Max. Nach ein paar Minuten an seiner Seite, als sich alles wieder etwas beruhigt hatte, versuchte sie, den Traum zu deuten. War es eine Vorahnung von Max’ Tod? Oder war es nur die Folge des Gesprächs in der Küche? Nahm Max jetzt die Stelle ihres Bruders ein? Und wenn es so war, wie konnte sie sich dann solcherart ihres eigenen Fleisches und Blutes entledigen? Vielleicht hegte sie tief in ihrem Innern den Wunsch, dass Max sterben möge. Immerhin war der Tod gut genug für ihren Bruder gewesen. Warum also nicht auch für einen Juden?

»Denkst du das wirklich?«, wisperte sie über das Bett gebeugt. »Nein.« Sie konnte es nicht glauben. Ihre Antwort hielt stand, während die Taubheit der Nacht wich und die verschiedenen Formen – groß und klein – auf dem Nachttisch sichtbar wurden. Die Geschenke.

»Wach auf«, sagte sie.

Max wachte nicht auf.

Es dauerte noch weitere acht Tage.

In der Schule knirschten Knöchel an der Tür.

»Herein«, sagte Frau Olendrich.

Die Tür öffnete sich, und ein ganzes Klassenzimmer voller Kinder schaute voller Überraschung auf Rosa Hubermann, die im Türrahmen stand. Einige keuchten bei dem Anblick auf – ein Kleiderschrank von einer Frau mit einem Hohnlächeln aus Lippenstift und ätzenden Augen. Sie. War eine Legende. Sie trug ihre besten Kleider, aber ihre Haare waren gelöst und völlig durcheinander. Und sie sahen tatsächlich aus wie ein Tuch aus elastischen grauen Strähnen.

Die Lehrerin fürchtete sich ganz offensichtlich. »Frau Hubermann...« Ihre Bewegungen rutschten durcheinander. Suchend blickte sie in die Runde. »Liesel?«

Liesel schaute Rudi an, stand auf und ging, so schnell sie konnte, zur Tür, um der Peinlichkeit baldmöglichst ein Ende zu bereiten. Die Tür schloss sich hinter ihr, und jetzt war sie allein im Flur, mit Rosa.

Rosa schaute zur Seite.

»Was ist los, Mama?«

Rosa drehte sich um. »Tu bloß nicht so unschuldig, du Saumensch!« Liesel fühlte sich von der Geschwindigkeit der Worte wie aufgespießt. »Meine Bürste!« Ein Lachen tröpfelte unter der Tür hindurch, zog sich jedoch umgehend zurück.

»Mama?«

Ihr Gesicht war ernst und froh zugleich. »Was zum Teufel hast du mit meiner Bürste angestellt, Saumensch, dreckiges? Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du deine Finger davon lassen sollst. Gehorchst du etwa? Nein, natürlich nicht!«

Die Tirade ging noch etwa eine Minute so weiter, während Liesel verzweifelt einen oder zwei Vorschläge einwarf, wo sich die gesuchte Bürste befinden konnte. Alles endete unvermittelt, als Rosa Liesel an sich zog, nur für ein paar Sekunden. Ihr Flüstern war kaum hörbar, obwohl sie so nah beieinander standen. »Du hast mir doch gesagt, ich soll dich anschreien. Du hast gesagt, dass dann keiner Verdacht schöpfen würde.« Sie schaute nach rechts und nach links. Ihre Stimme war so dünn wie Nadel und Faden. »Er ist aufgewacht, Liesel. Er ist wach.« Aus ihrer Tasche zog sie den Zinnsoldaten mit der zerkratzten Haut. »Er sagte, ich soll dir das hier geben. Das Geschenk hat er am liebsten.« Sie gab es Liesel, hielt ihre Arme fest und lächelte. Ehe Liesel noch antworten konnte, hob Rosa wieder ihre Stimme. »Na? Antworte mir! Hast du noch eine Idee, wo du die Bürste liegen gelassen haben könntest?«

Er lebt, dachte Liesel. »Nein, Mama... tut mir leid, Mama. Ich …«

»Du bist aber auch zu gar nichts zu gebrauchen.« Sie ließ Liesel los, nickte und ging davon.

Ein paar Augenblicke blieb Liesel einfach stehen. Der Flur war riesig. Sie betrachtete den Zinnsoldaten in ihrer Handfläche. Instinktiv wollte sie sofort nach Hause rennen, aber die Vernunft gestattete es nicht. Stattdessen steckte sie den zerschundenen Soldaten in ihre Tasche und kehrte ins Klassenzimmer zurück.

Alle warteten.

»Dumme Kuh«, sagte sie leise.

Wieder lachten alle. Außer Frau Olendrich.

»Was hast du gesagt?«

Liesel war so gut gelaunt, dass sie sich unangreifbar fühlte. »Ich sagte«, strahlte sie, »dumme Kuh.« Es dauerte keine halbe Sekunde, da klebte ihr die Hand der Lehrerin im Gesicht.

»Sprich gefälligst nicht so über deine Mutter«, sagte sie, aber ihre Handlung zeigte kaum Wirkung. Das Mädchen stand einfach nur da und versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken. Heute hätte sie hundert Watschen ertragen.

»Jetzt setz dich wieder auf deinen Platz.«

»Ja, Frau Olendrich.«

Neben ihr wagte Rudi zu sprechen.

»Jesus, Maria und Josef«, flüsterte er. »Ich kann ihre Hand auf deinem Gesicht sehen. Eine große, rote Hand. Fünf Finger.«

»Gut«, sagte Liesel, denn Max war am Leben.

Als sie an diesem Nachmittag nach Hause kam, saß er im Bett und hatte den schlaffen Fußball auf dem Schoß liegen. Sein Bart juckte, und seine schlammigen Augen hatten Mühe, offen zu bleiben. Neben den Geschenken stand eine leere Suppentasse.

Sie sagten nicht Hallo.

Sie fühlten sich durch eine unsichtbare Grenze getrennt.

Die Tür hatte geknarrt, als das Mädchen hereingekommen war und sich vor ihn hingestellt hatte. Nun schaute sie auf die Tasse. »Hat Mama dir die Suppe eingeflößt?«

Er nickte, zufrieden, müde. »Aber sie war sehr gut.«

»Mamas Suppe? Wirklich?«

Es war kein Lächeln, das er ihr schenkte. »Danke für die Geschenke.« Vielmehr ein schmaler Spalt in seinem Mund. »Danke für die Wolke. Dein Papa hat mir die Sache näher erklärt.«

Nach einer Stunde versuchte es Liesel mit der Wahrheit. »Wir wussten nicht, was wir hätten machen sollen, wenn du gestorben wärst, Max. Wir...«

Es dauerte nicht lange. »Du meinst, wie ihr mich losgeworden wärt?«

»Es tut mir leid.«

»Nein.« Er fühlte sich nicht beleidigt. »Ihr habt ja recht.« Mit schwachen Fingern spielte er mit dem Ball. »Ihr hattet recht, so zu denken. In eurer Situation ist ein toter Jude genauso gefährlich wie ein lebendiger, wenn nicht noch schlimmer.«

»Ich habe auch geträumt.« In allen Einzelheiten erzählte sie ihren Traum, wobei sie den Zinnsoldaten fest umklammert hielt. Sie wollte sich schon wieder entschuldigen, als Max sie unterbrach.

»Liesel.« Er bat sie, ihn anzuschauen. »Du darfst dich nie bei mir entschuldigen. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen müsste.« Er zeigte auf die Dinge, die sie ihm gebracht hatte. »Schau dir das an. Diese Geschenke.« Er nahm den Knopf in die Hand. »Und Rosa sagt, du hast mir zwei Mal am Tag vorgelesen, manchmal sogar drei Mal.« Jetzt schaute er die Vorhänge an, als ob er durch sie hindurch nach draußen sehen könnte. Er setzte sich ein bisschen aufrechter hin und verstummte ein Dutzend lautloser Sätze lang. Beklommenheit schlich sich in sein Gesicht, und er legte ein Geständnis ab. »Liesel?« Er rückte leicht nach rechts. »Ich habe Angst«, sagte er. »Ich habe Angst, wieder einzuschlafen.«

Liesel fasste einen Entschluss. »Dann lese ich dir vor. Und ich gebe dir eine Ohrfeige, wenn du anfängst einzudösen. Ich klappe das Buch zu und schüttele dich, bis du wieder wach bist.«

An diesem Nachmittag und bis in die Nacht hinein las Liesel Max Vandenburg vor. Er saß im Bett und absorbierte die Worte, diesmal im Wachzustand, bis kurz nach zehn Uhr. Als Liesel mit dem Traumträger eine kurze Pause machte, schaute sie über den Buchrand und sah, dass Max eingeschlafen war. Ängstlich stupste sie ihn an. Er wachte auf.

Noch drei Mal schlief er ein. Zwei Mal weckte sie ihn.

In den nächsten vier Tagen wachte er jeden Morgen in Liesels Bett auf, dann neben dem Kamin und schließlich, Mitte April, im Keller. Seine Gesundheit hatte sich verbessert, der Bart war weg, und er hatte wieder etwas mehr Fleisch auf den Rippen.

In der Himmelstraße 33 herrschte große Erleichterung. Draußen begann die Situation unsicher zu werden. Ende März wurde Lübeck von einem Bombenhagel getroffen. Als Nächstes war Köln an der Reihe und schon bald viele andere deutsche Städte, auch München.

Ja, mein Vorgesetzter schaute mir über die Schulter.