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Manchmal ging Liesel mit ihm.

Sie karrten die Farbtöpfe durch die Stadt, rochen in einigen Straßen den Hunger und schüttelten in anderen die Köpfe angesichts des Reichtums. Wenn sie auf dem Heimweg waren, kamen manchmal Frauen aus den Häusern gerannt, denen nichts als ihre Kinder geblieben war, und flehten ihn an, ihre Jalousien schwarz anzumalen.

»Frau Halla, tut mir leid, ich habe keine schwarze Farbe mehr«, sagte er dann, aber nach nur ein paar Schritten kehrte er um. Er war ein großer Mann, der auf einer langen Straße stand. »Morgen«, versprach er, »gleich als Erstes«, und als der nächste Morgen dämmerte, war er da und strich die Jalousien umsonst an, für einen Keks oder eine Tasse Kaffee. Am Abend zuvor hatte er wieder eine Möglichkeit gefunden, blaue oder grüne oder gelbe Farbe in Schwarz zu verwandeln. Niemals wimmelte er die Menschen ab, indem er ihnen erklärte, dass sie ihre Fenster mit Decken verhängen sollten, denn er wusste, sie würden sie brauchen, wenn der Winter käme. Man behauptete sogar, dass er Jalousien für eine halbe Zigarette anmalte, die er sich, auf den Eingangsstufen sitzend, mit dem Hausbesitzer teilte. Gelächter und Rauch stiegen aus dem Gespräch auf, ehe er sich zum nächsten Haus aufmachte.

Ich erinnere mich ganz deutlich daran, was Liesel Meminger, als ihre Zeit zu schreiben gekommen war, über diesen Sommer zu sagen hatte. Viele Worte sind mit den Jahrzehnten verblasst. Das Papier, das in meiner Tasche steckt, hat unter der Reibung meiner Bewegungen gelitten, aber dennoch konnte ich einige ihrer Sätze nicht vergessen.

EINIGE SÄTZE, VON EINEM MÄDCHEN GESCHRIEBEN

Dieser Sommer war ein neuer Anfang, ein neues Ende.

Wenn ich zurückschaue, muss ich an meine Hände denken,

glitschig vor Farbe, und an den Klang von Papas Schritten

auf der Münchener Straße. Ich weiß, dass ein kleiner Teil

des Sommers 1942 nur einem einzigen Mann gehörte.

Wer sonst würde für den Preis einer halben Zigarette einen

Auftrag als Anstreicher annehmen? Das war Papa, das war

typisch für ihn, und ich liebte ihn.

An den Tagen, an denen sie zusammen arbeiteten, erzählte er Liesel seine Geschichten. Über den Großen Krieg und wie seine miserable Handschrift ihm das Leben rettete und über den Tag, an dem er Mama kennenlernte. Er sagte, dass sie einmal sehr schön gewesen war und tatsächlich zurückhaltend. »Ich weiß, das kann man kaum glauben, aber es stimmt.« Jeden Tag gab es eine Geschichte, und Liesel verzieh ihm, wenn er die eine oder andere mehr als ein Mal erzählte.

Manchmal, wenn sie tagträumte, tippte ihr Papa leicht mit dem Pinsel auf die Nasenwurzel, direkt zwischen die Augen. Wenn auf dem Pinsel zu viel Farbe war, lief ein kleiner, dunkler Pfad über ihren Nasenflügel. Dann lachte sie und versuchte, sich zu revanchieren, aber Hans Hubermann ließ sich nicht so leicht erwischen. Bei der Arbeit war er flink und lebendig.

Wenn sie eine Pause machten, um etwas zu essen oder zu trinken, spielte er auf seinem Akkordeon, und daran erinnerte sich Liesel am besten. Jeden Morgen schob oder zog Papa den Karren mit den Farbeimern, und Liesel trug das Instrument. »Lieber lasse ich die Farbe liegen«, sagte Hans zu ihr, »als die Musik zu vergessen.« Wenn sie sich zum Essen hinsetzten, schnitt er das Brot und beschmierte es mit etwas Marmelade, die er mit der letzten Lebensmittelmarke ergattert hatte. Oder er legte eine dünne Scheibe Wurst darauf. Dann saßen sie beieinander auf den Farbeimern und aßen etwas, und während sie noch den letzten Mundvoll kauten, wischte Papa sich schon die Finger ab und öffnete den Akkordeonkasten.

In den Falten seines Arbeitskittels verbargen sich Pfade aus Brotkrumen. Farbbekleckste Hände marschierten über die Knöpfe und Tasten oder verharrten inmitten einer Note. Seine Arme bearbeiteten die Blasebälge und gaben dem Instrument die Luft zum Atmen.

Liesel saß mit den Händen zwischen den Knien mitten im Herzen des Tageslichts. Sie wünschte sich, dass keiner dieser Tage zu Ende gehen möge, und sie war jedes Mal enttäuscht, wenn sie die Dunkelheit daherkommen sah.

Was die Arbeit selbst betraf, so fand Liesel das Mischen der Farben am interessantesten. Wie die meisten Leute, so hatte auch sie angenommen, dass ihr Papa einfach zum nächsten Geschäft ging und die richtige Farbe kaufte. Ihr war nicht klar gewesen, dass Farbe meistens die Beschaffenheit von Klumpen hatte, so ähnlich geformt wie ein Backstein. Dieser Klumpen musste dann mit einer Champagnerflasche ausgerollt werden. (Champagnerflaschen, so erklärte Hans, waren dafür ideal, weil ihr Glas etwas dicker war als das gewöhnlicher Weinflaschen.) Nachdem dies geschehen war, fügte man Wasser hinzu, Weiße und Kleister, wobei es alles andere als leicht war, den richtigen Farbton zu treffen.

Die Kunst und Wissenschaft, die hinter dem Handwerk steckte, verschaffte Papa in Liesels Augen nur noch mehr Respekt. Es war gut und schön, wenn man zusammen aß und musizierte, aber Liesel fand es aufregend zu sehen, dass ihr Papa in seinem Beruf kein Stümper war. Kompetenz macht attraktiv.

Eines Nachmittags, kurz nachdem Papa Liesel in die Geheimnisse des Farbenmischens eingeführt hatte, arbeiteten sie an einem der wohlhabenderen Häuser östlich der Münchener Straße. Am frühen Nachmittag holte Papa Liesel ins Haus. Sie hatten sich gerade auf den Weg zu einem anderen Auftrag machen wollen, als er seine Stimme erhob und sie zu sich rief.

Sie betrat die Küche, wo zwei ältere Frauen und ein Mann auf zierlichen, sehr zivilisierten Stühlen saßen. Die Frauen waren gut gekleidet. Der Mann hatte weiße Haare und einen Backenbart, so dicht wie eine Hecke. Auf dem Tisch standen hohe Gläser, die mit einer sprudelnden Flüssigkeit gefüllt waren.

»Sodenn«, sagte der Mann, »zum Wohl!«

Er nahm sein Glas und bedeutete den anderen, es ihm nachzutun.

Der Nachmittag war warm gewesen. Liesel zuckte angesichts der Kälte des Glases leicht zusammen. Sie schaute Papa an, der ermutigend nickte, grinste und sagte: »Prost, Mädel!« Ihre Gläser stießen klingend aneinander, und in dem Moment, in dem Liesel das Glas an den Mund hob, wurde sie von dem spritzigen, widerlich süßlichen Geschmack des Champagners gebissen. Reflexartig spuckte sie das Zeug direkt auf den Kittel ihres Papas, wo die Flüssigkeit schäumte und tropfte. Gelächter brauste auf, und Hans forderte sie auf, es noch einmal zu versuchen. Diesmal konnte sie schlucken und den Geschmack einer ruhmreich gebrochenen Regel genießen. Es fühlte sich großartig an. Die Bläschen auf ihrer Zunge, die noch in ihrem Bauch kitzelten. Sogar als sie sich auf den Weg machten, konnte sie noch immer das Kribbeln in ihrem Innern spüren.

Papa, der den Karren zog, erzählte ihr, dass die Leute behauptet hätten, kein Geld zu haben.

»Und da hast du Champagner verlangt?«

»Warum nicht?« Er schaute sie über den Karren hinweg an, und seine Augen waren noch nie so silbrig gewesen. »Ich wollte nicht, dass du denkst, Champagnerflaschen sind nur dazu da, dass man Farbklumpen damit platt rollt.« Er warnte sie: »Erzähl bloß Mama nichts davon, hörst du?«

»Darf ich es Max erzählen?«

»Sicher, Max darfst du es sagen.«

Als sie im Keller saß und über ihr Leben schrieb, schwor sich Liesel, dass sie nie wieder Champagner trinken würde, denn er würde nie wieder so gut schmecken wie an jenem Nachmittag.

Mit dem Akkordeon war es genauso.

Oft wollte sie fragen, ob Papa ihr das Spielen beibringen könne, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Vielleicht wusste sie intuitiv, dass sie nie in der Lage sein würde, so zu spielen wie Hans Hubermann. Nicht einmal der weltbeste Akkordeonspieler konnte sich mit ihm messen. Auf keinem anderen Gesicht lag jener Ausdruck von gelassener Konzentration. Kein anderer Musiker hatte eine Zigarette zwischen den Lippen, die er gegen den Anstrich einer Jalousie eingetauscht hatte. Und keiner von ihnen konnte eine falsche Note im Nachhinein mit dem Dreiklang eines Lachens quittieren. Nicht so wie er.