Im 400-Meter-Finale ging er schon vor der Geraden in Führung und ließ sie sich nicht mehr nehmen. Die 200 Meter gewann er nur knapp.
»Wirst du müde?«, fragte Liesel ihn. Es war mittlerweile früher Nachmittag.
»Natürlich nicht.« Er atmete schwer und dehnte seine Oberschenkel. »Wovon redest du überhaupt, Saumensch? Was weißt du denn schon davon?«
Als die 100-Meter-Läufe angekündigt wurden, erhob er sich langsam und folgte der Gruppe von Jugendlichen zum Start. Liesel kam ihm nach. »He, Rudi.« Sie zupfte ihn am Ärmel. »Viel Glück.«
»Ich bin nicht müde«, sagte er.
»Ich weiß.«
Er zwinkerte ihr zu.
Er war müde.
Im Vorlauf lief Rudi langsamer und beendete das Rennen als Zweiter. Weitere zehn Minuten, in denen die anderen Vorläufe stattfanden. Dann wurde der Endlauf ausgerufen. Zwei andere Jungen wirkten frisch und ausgeruht, und in Liesels Bauch nagte das Gefühl, dass Rudi dieses Rennen nicht gewinnen könne. Tommi Müller, der in seinem Lauf Vorletzter geworden war, stand neben ihr am Zaun. »Er wird gewinnen«, erklärte er.
»Ich weiß.«
Nein, wird er nicht.
Als die Finalisten sich der Startlinie näherten, ließ sich Rudi auf die Knie fallen und grub mit seinen Händen Startlöcher in den Boden. Ein kahl werdendes Braunhemd marschierte auf ihn zu und befahl ihm, die Mätzchen zu lassen. Liesel sah auf den deutenden Finger des Erwachsenen und auf den Schmutz, der zu Boden rieselte, als Rudi sich die Hände abwischte.
Die Läufer wurden aufgerufen. Liesels Hände umschlossen die Zaunlatte fester. Einer der Wettkämpfer verursachte einen Fehlstart; aus der Starterpistole ertönte ein zweiter Schuss und rief die Läufer zurück. Der Fehlstarter war Rudi. Wieder richtete der Mann im braunen Hemd das Wort an ihn, und der Junge nickte. Beim zweiten Mal würde er draußen sein.
Wieder machten sich die Läufer fertig. Liesel schaute mit gebannter Aufmerksamkeit zu, und ein paar Sekunden lang begriff sie nicht, was sie da sah. Erneut gab es einen Fehlstart, und es war derselbe Athlet, der schon für den ersten verantwortlich war. Vor Liesels geistigem Auge lief ein perfektes Rennen ab, in dem Rudi im Mittelfeld blieb, aber am Ende mit mehr als zehn Metern Vorsprung gewann. Was sie tatsächlich sah, war Rudis Disqualifikation. Er wurde von der Bahn geführt und an der Seite abgestellt. Dort stand er dann, allein, als die restlichen Jungen ein drittes Mal vortraten.
Sie stellten sich auf und rannten.
Ein Junge mit rostbraunen Haaren und großen Schritten gewann mit fünf Metern Vorsprung.
Rudi blieb zurück.
Später, als der Tag fertig und die Sonne vom Himmel genommen worden war, saß Liesel mit ihrem Freund auf dem Bürgersteig der Himmelstraße.
Sie redeten über alles andere, von Franz Deutschers Gesicht nach dem 1500-Meter-Rennen bis zu einem elfjährigen Mädchen, das einen Anfall bekommen hatte, nachdem sie das Diskuswerfen verloren hatte.
Bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten, griff Rudis Stimme zu ihr hinüber und überreichte Liesel die Wahrheit. Die saß eine Zeit lang auf Liesels Schulter, aber ein paar Gedankengänge später bahnte sie sich den Weg in ihr Ohr.
»Ich hab’s absichtlich gemacht.«
Nachdem sie den Inhalt des Geständnisses begriffen hatte, stellte Liesel die einzige Frage, die sie parat hatte: »Aber warum, Rudi? Warum hast du das getan?«
Er stand da, mit einer Faust in die Hüfte gestemmt, und gab ihr keine Antwort. Nichts außer einem wissenden Lächeln und ein paar langsamen Schritten, die ihn nach Hause trieben. Sie sprachen nie wieder darüber.
Dennoch fragte sich Liesel oft, wie Rudi geantwortet hätte, hätte sie ihn gedrängt. Vielleicht, dass drei Medaillen ausreichend seien, um zu beweisen, was er hatte beweisen wollen. Oder dass er Angst gehabt habe, dieses letzte Rennen zu verlieren. Am Ende schenkte sie einer jungen Stimme Gehör, die aus ihrem Innern kam.
»Weil er nicht Jesse Owens ist.«
Erst als sie vom Bürgersteig aufstand, sah sie die drei unechten Goldmedaillen neben sich liegen. Sie klopfte an die Tür der Steiners und hielt Rudi die Medaillen entgegen. »Die hast du vergessen.«
»Nein, habe ich nicht.« Er machte die Tür zu, und Liesel nahm die Medaillen mit nach Hause. Sie brachte sie hinunter in den Keller und erzählte Max von ihrem Freund Rudi Steiner.
»Er ist wirklich dumm«, sagte sie abschließend.
»Zweifellos«, stimmte Max zu, aber ich glaube nicht, dass er sich zum Narren halten ließ.
Dann arbeitete Max an seinem Skizzenbuch weiter, während Liesel den Traumträger las. Sie war schon im letzten Drittel angelangt, in dem der junge Priester an seinem Glauben zu zweifeln beginnt, nachdem er eine fremde und elegante Dame kennengelernt hat.
Sie legte das Buch mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten in ihren Schoß. Max fragte, wann sie glaube, damit fertig zu sein.
»In ein paar Tagen.«
»Und dann? Ein neues Buch?«
Die Bücherdiebin schaute hinauf zur Kellerdecke. »Vielleicht, Max.« Sie schlug das Buch zu und lehnte sich zurück. »Wenn ich Glück habe.«
Es ist nicht das Duden Bedeutungswörterbuch,
wie ihr vielleicht erwartet habt.
Nein, das Wörterbuch kommt erst am Ende dieser kleinen Trilogie zum Zuge, und derzeit befinden wir uns im zweiten Teil. Dies ist der Abschnitt, in dem Liesel den Traumträger zu Ende liest und eine Geschichte mit dem Titel Ein Lied im Dunkeln stiehlt. Wie immer stammte sie aus dem Haus des Bürgermeisters. Der einzige Unterschied war, dass sie diesmal allein dorthin ging. Rudi war an diesem Tag nicht bei ihr.
Der Morgen war reich an Sonne und schaumigen Wolken.
Liesel stand in der Bibliothek des Bürgermeisters. Gier klebte an ihren Fingern und Buchtitel an ihren Lippen. Heute fühlte sie sich sicher genug, um mit den Händen über die Regale zu streichen – eine abgekürzte Wiederholung dessen, was sie früher in diesem Raum getan hatte -, und sie flüsterte im Vorbeigehen viele der Titel vor sich hin.
Unter dem Kirschbaum.
Der zehnte Leutnant.
Wie so oft fühlte sie sich von etlichen dieser Titel in Versuchung geführt, aber nach ein oder zwei Minuten entschied sie sich für Ein Lied im Dunkeln, wahrscheinlich weil das Buch grün war und sie noch kein Buch in dieser Farbe besaß. Die geprägte Schrift auf dem Einband war weiß, und zwischen Titel und Autor befand sich das Bild einer kleinen Flöte. Mit dem Buch kletterte sie aus dem Fenster und bedankte sich dabei lautlos.
Normalerweise fehlte ihr etwas, wenn Rudi nicht da war, aber an diesem besonderen Morgen war die Bücherdiebin aus irgendeinem Grund lieber allein. Sie ging zur Amper, setzte sich ans Ufer – weit genug von dem üblichen Treffpunkt von Viktor Chemmel und Arthur Bergs ehemaliger Bande entfernt – und las. Niemand kam vorbei, niemand störte sie, und Liesel las vier der sehr kurzen Kapitel von Ein Lied im Dunkeln. Sie war glücklich.
Es war das Vergnügen und die Befriedigung.
Über einen gelungenen Diebstahl.
Eine Woche später war die Trilogie des Glücks komplett.
In den letzten Augusttagen wurde ihr ein Geschenk gemacht, oder besser gesagt: Das Geschenk wurde bemerkt.