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Es war später Nachmittag. Liesel schaute Kristina Müller beim Seilspringen auf der Himmelstraße zu. Rudi Steiner kam schlitternd auf dem Fahrrad seines Bruders vor ihr zum Stehen. »Hast du Zeit?«, fragte er sie.

Sie zuckte mit den Schultern. »Wofür?«

»Ich glaube, du solltest mitkommen.« Er legte das Fahrrad ab und ging nach Hause, um ein zweites zu holen. Liesel betrachtete die kreiselnden Pedale vor ihren Füßen.

Sie fuhren die Große Straße hinauf. Rudi hielt an und wartete.

»Und?«, fragte Liesel. »Was ist denn?«

Rudi deutete mit dem Finger. »Schau genau hin.«

Sie schoben sich näher, um einen besseren Blick zu haben, und versteckten sich hinter einer Blautanne. Durch die stacheligen Zweige sah Liesel das angelehnte Fenster und dann einen Gegenstand hinter der Glasscheibe.

»Ist das …?«

Rudi nickte.

Sie besprachen die Situation ein paar Minuten lang, bis sie entschieden, dass es getan werden musste. Das Buch war ganz offensichtlich absichtlich dort hingestellt worden, und wenn es eine Falle war, so war es jedenfalls den Versuch wert.

Inmitten der pudrig blauen Zweige sagte Lieseclass="underline" »Ein Bücherdieb würde es tun.«

Sie legte das Fahrrad auf den Boden, schaute sich auf der Straße um und ging durch den Hof. Die Wolkenschatten waren im dunklen Gras vergraben. Waren es Löcher, in die man fallen, oder dunkle Flecken, in denen man sich verbergen konnte? In ihrer Einbildung rutschte sie in eines dieser Löcher hinein, direkt in die bösartigen Fänge des Bürgermeisters. Wenn diese Gedanken etwas Gutes hatten, dann die Tatsache, dass sie Liesel ablenkten und sie das Fenster schneller als erwartet erreichte.

Alles war wie damals, als sie den Pfeifer gestohlen hatte.

Ihre Nerven leckten ihre Handflächen feucht.

Kleine Ströme aus Schweiß kräuselten sich in ihren Achseln.

Als sie den Kopf hob, konnte sie den Titel lesen: Duden Bedeutungswörterbuch. Kurz wandte sie sich zu Rudi um und formte lautlos die Worte: Es ist ein Wörterbuch. Er zuckte mit den Schultern und breitete kurz die Arme aus.

Sie ging überlegt vor, hob das Fenster an und fragte sich gleichzeitig, wie die ganze Szene vom Innern des Hauses betrachtet aussehen würde. Sie stellte sich den Anblick ihrer diebischen Hand vor, die das Fenster hochschob, bis das Buch hinausfiel. Es schien sich nur zögernd zu ergeben, wie ein gefällter Baum.

Es fiel.

Kaum ein Geräusch war zu hören.

Das Buch neigte sich ihr entgegen, und sie nahm es mit ihrer freien Hand. Sie machte sogar das Fenster wieder zu, vorsichtig und ordentlich. Dann drehte sie sich um und ging durch die Schlaglöcher aus Wolken wieder zurück.

»Saubere Arbeit«, sagte Rudi und reichte ihr den Lenker ihres Fahrrads.

»Danke.«

Sie fuhren auf die Straßenecke zu, wo sie die Bedeutsamkeit des Tages erwartete. Liesel wusste es. Da war wieder dieses Gefühl – das Gefühl, beobachtet zu werden. Eine Stimme trat in ihrem Herzen in die Pedale. Zwei Mal rundherum.

Schau zum Fenster. Schau zum Fenster.

Sie konnte nicht anders.

Wie ein Jucken, das nach einem Fingernagel verlangt, verspürte sie das unbezähmbare Bedürfnis anzuhalten.

Sie stellte die Füße auf den Boden und drehte sich um, schaute zurück zum Haus des Bürgermeisters, zum Fenster der Bibliothek, und sie sah es. Sie hätte wissen müssen, dass die Möglichkeit bestand, aber dennoch konnte sie den Schreck nicht verbergen, als sie die Frau des Bürgermeisters erblickte, die hinter der Glasscheibe stand. Sie war durchsichtig, aber sie war da. Ihre fusseligen Haare sahen so aus wie immer, und sie gab ihre verwundeten Augen, ihren verletzten Mund und ihr Gesicht Liesels Blicken preis.

Sehr langsam hob sie die Hand, grüßte die Bücherdiebin unter ihr auf der Straße. Ein bewegungsloses Winken.

In ihrem Schreck sagte Liesel nichts, weder zu Rudi noch zu sich selbst. Sie reckte nur die Schultern und hob ebenfalls die Hand, um den Gruß der Frau zu erwidern.

DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH – ZWEITER EINTRAG

verzeihen: Ein Unrecht, eine Kränkung o. Ä. nicht zum

Anlass für eine heftige Reaktion, eine

Vergeltungsmaßnahme nehmen, sondern mit Nachsicht

und Großzügigkeit reagieren.

Synonyme: entschuldigen, nachsehen, vergeben.

Auf dem Heimweg hielten sie auf der Brücke an und begutachteten das schwere schwarze Buch. Rudi blätterte durch die Seiten und entdeckte einen Brief. Er zog ihn heraus und schaute langsam zur Bücherdiebin auf.

»Da steht dein Name drauf.«

Der Fluss zog dahin.

Liesel nahm das Stück Papier.

DER BRIEF

Liebe Liesel,

ich weiß, dass du mich für jämmerlich und verachtenswert hältst (schlag die Wörter nach, wenn du sie nicht kennst), aber ich bin nicht so dumm, dass ich deine Fußspuren in der Bibliothek übersehen würde.

Als ich das erste Mal bemerkte, dass ein Buch fehlt, dachte ich, dass ich es einfach verlegt hätte, aber dann sah ich die Konturen von Fußabdrücken auf dem Boden, dort, wo das Licht hinfällt.

Ich musste lächeln.

Ich war froh, dass du dir genommen hast, was ohnehin dir gehört. Dann beging ich einen Fehler. Ich dachte, es wäre zu Ende.

Als du zurückkamst, hätte ich wütend sein sollen, aber ich war es nicht. Das letzte Mal konnte ich dich hören, aber ich beschloss, dich in Ruhe zu lassen. Du nimmst ja jedes Mal nur ein Buch, und es wird tausend Besuche dauern, bis sie alle weg sind. Ich hoffe nur, dass du eines Tages an die Haustür klopfen und das Haus auf anständige Art und Weise betreten wirst.

Ich möchte dir noch einmal sagen, wie leid es mir tut, dass wir deine Pflegemutter nicht länger beschäftigen können.

Abschließend hoffe ich, dass dir das Wörterbuch von Nutzen sein wird, wenn du deine gestohlenen Bücher liest.

Mit freundlichen Grüßen

Ilsa Hermann

»Wir sollten jetzt heimfahren«, schlug Rudi vor, aber Liesel machte keine Anstalten aufzubrechen.

»Kannst du zehn Minuten auf mich warten?«

»Na klar.«

Liesel strampelte wieder die Große Straße hinauf bis zur Hausnummer 8. Sie setzte sich auf die vertraute Treppenstufe. Das Buch hatte Rudi, aber sie hielt den Brief und rieb mit den Fingern über das gefaltete Papier. Unter ihr wurden die Stufen immer härter. Vier Mal machte sie Anstalten, an das einschüchternde Fleisch der Tür zu klopfen, aber sie brachte es nicht fertig. Alles, wozu sie den Mut hatte, war, ihre Fingerknöchel auf die Wärme des Holzes zu legen.

Wieder fand ihr Bruder den Weg zu ihr.

Er stand am Fuß der Treppe. Sein Knie heilte gut. Er sagte: »Na, mach schon, Liesel. Klopf an.«

Sie ergriff ein zweites Mal die Flucht. Schon bald sah sie in der Ferne Rudis Gestalt auf der Brücke. Der Wind brauste durch sein Haar. Seine Füße schwammen auf den Pedalen.

Liesel Meminger war eine Verbrecherin.

Aber nicht, weil sie durch ein offenes Fenster geklettert und eine Handvoll Bücher gestohlen hatte.

Ich hätte klopfen sollen, dachte sie, und obwohl sie eine gute Portion Schuld empfand, verspürte sie auch das jugendliche Kitzeln von Gelächter in sich aufsteigen.

Sie radelte dahin und redete mit sich selbst.

Du verdienst es nicht, glücklich zu sein, Liesel. Wirklich nicht.

Kann man Glück stehlen? Oder ist das wieder so ein sinnhafter, sündhafter menschlicher Trick?

Liesel schüttelte die Gedanken ab. Sie überquerte die Brücke, forderte Rudi auf, sich zu beeilen und das Buch nicht liegen zu lassen.