Hatten sie etwas Besseres verdient, diese Leute?
Wie viele von ihnen hatten offen andere Menschen drangsaliert, waren Hitlers Wahnsinn verfallen, plapperten seine Sätze, seine Phrasen, sein Werk nach? War Rosa Hubermann schuldig? Die Hüterin eines Juden? Oder Hans? Verdienten sie zu sterben? Die Kinder?
Die Antworten auf diese Fragen interessieren mich sehr, obwohl ich nicht zulassen darf, dass sie mich verführen. Ich weiß nur, dass all diese Menschen mich in jener Nacht gespürt hätten, wenn ich da gewesen wäre, auch die kleinsten Kinder. Ich war die Andeutung. Ich war der Bescheid, und die Vorstellung von meinen Füßen ging durch die Küche und den Flur entlang.
Wie so oft, wenn ich in den Worten der Bücherdiebin über Menschen las, hatte ich Mitleid mit ihnen, allerdings nicht so viel wie mit jenen, die ich zu dieser Zeit aus den Lagern schaufelte. Die Deutschen in den Kellern waren bemitleidenswert, sicher, aber sie hatten wenigstens eine Chance. Ein Keller ist kein Waschraum. Sie wurden nicht dorthin geschickt, um sich zu duschen. Für diese Menschen war das Leben noch erreichbar.
In dem krummen Kreis schlurften die Minuten dahin.
Liesel hielt Rudi und Mama an der Hand.
Nur ein Gedanke machte sie traurig.
Max.
Würde er überleben, wenn die Bomben auf die Himmelstraße fielen?
Sie betrachtete den Raum, der sie umgab. Der Keller der Fiedlers war viel massiver und auch viel geräumiger als derjenige in der Himmelstraße 33.
Stumm fragte sie ihren Papa.
Denkst du auch an ihn?
Ob die lautlose Frage nun bemerkt wurde oder nicht, jedenfalls schenkte er dem Mädchen ein rasches Nicken. Wenige Minuten später folgte ein Dreiklang aus Sirenengeheul, der flüchtige Sicherheit verkündete.
Die Menschen in der Himmelstraße 45 sanken erleichtert in sich zusammen.
Manche kniffen die Augen zusammen und öffneten sie wieder.
Eine Zigarette wurde herumgereicht.
Gerade als sie Rudis Lippen erreichte, wurde sie ihm von seinem Vater vor der Nase weggeschnappt. »Du nicht, Jesse Owens.«
Die Kinder umarmten ihre Eltern, und es dauerte mehrere Minuten, bis allen klar war, dass sie noch lebten und dass sie auch weiterhin am Leben bleiben würden. Erst dann erklommen ihre Füße die Treppe nach oben, in Herbert Fiedlers Küche und hinaus.
Eine schweigende Prozession marschierte wieder nach Hause. Die Menschen schauten nach oben und dankten Gott für ihr Leben.
Als die Hubermanns heimkamen, gingen sie auf direktem Weg in den Keller, aber es sah so aus, als wäre Max nicht da. Der Lampenschein war klein und orange, und sie konnten ihn weder sehen noch eine Antwort vernehmen.
»Max?«
»Er ist verschwunden.«
»Max, sind Sie da?«
»Ich bin hier.«
Sie dachten zuerst, dass die Stimme hinter den Lumpen und den Farbeimern hervorkam, aber Liesel sah ihn als Erste. Er war direkt neben ihnen. Sein abgespanntes Gesicht fiel zwischen den Malutensilien und dem Werkzeug kaum auf. Seine Augen und Lippen waren wie betäubt.
Sie wendeten sich ihm zu, und er öffnete den Mund.
»Ich konnte nicht anders«, sagte er.
Rosa kauerte sich nieder und schaute ihm ins Gesicht. »Wovon sprechen Sie, Max?«
»Ich …« Er kämpfte mit der Antwort. »Als alles still war, bin ich hinaufgegangen, und im Flur habe ich gesehen, dass der Vorhang im Wohnzimmer einen Spalt offen stand … Ich konnte nach draußen sehen. Ich habe nur ein paar Sekunden lang hingeschaut.«
Er hatte die Welt da draußen seit zweiundzwanzig Monaten nicht mehr gesehen.
Keine Wut. Kein Tadel.
Papa stellte eine Frage.
»Wie hat es ausgesehen?«
Max hob den Kopf. In seinem Blick standen Trauer und Erstaunen. »Da waren Sterne«, sagte er. »Sie haben meine Augen verbrannt.«
Vier Menschen.
Zwei standen. Zwei saßen.
Alle hatten in dieser Nacht etwas erlebt.
Dieser Ort war der wahrhaftige Keller. Hier lebte die wahre Angst. Max riss sich zusammen und stand auf, um sich wieder hinter den Lumpenberg zu begeben. Er wünschte ihnen eine gute Nacht, doch er kam nicht weit. Mit Mamas Erlaubnis blieb Liesel bei ihm bis zum Morgen, las Ein Lied im Dunkeln, während er an seinem Buch arbeitete.
Von einem Fenster in der Himmelstraße aus, schrieb er, setzten die Sterne meine Augen in Brand.
DER HIMMELSDIEB
Es stellte sich heraus, dass der erste Luftangriff gar kein Luftangriff war. Hätten die Leute darauf gewartet, Flugzeuge am Himmel zu sehen, hätten sie die ganze Nacht lang warten können. Das erklärte auch die Tatsache, dass kein Kuckucksruf aus dem Radio ertönt war. Das Molchinger Abendblatt berichtete, dass ein einzelner Flak-Offizier etwas übereifrig gewesen sei. Er hätte schwören können, dass er das Rattern von Flugzeugen wahrgenommen und sie am Horizont auch gesehen hätte. Er hatte den Alarm ausgelöst.
»Vielleicht hat er es absichtlich getan«, überlegte Hans Hubermann. »Würdet ihr gerne an einer Flak sitzen und auf Flugzeuge schießen, die mit Bomben beladen sind?«
Max, der den Artikel im Keller las, erfuhr, dass der Mann mit der blühenden Fantasie seines Postens enthoben worden war. Wahrscheinlich wurde er irgendwo anders hin versetzt.
»Viel Glück für ihn«, sagte Max. Er schien die Zusammenhänge zu begreifen. Dann widmete er sich dem Kreuzworträtsel.
Der nächste Alarm war echt.
In der Nacht des 19. September rief der Kuckuck aus dem Radio, gefolgt von einer tiefen, sachlichen Stimme, die Molching als ein mögliches Ziel nannte.
Wieder zog sich eine Schlange aus Menschen durch die Himmelstraße, und wieder ließ Papa sein Akkordeon zurück. Rosa erinnerte ihn daran, aber er schüttelte den Kopf. »Das letzte Mal hatte ich es auch nicht dabei«, erklärte er, »und wir haben überlebt.« Der Krieg ließ eindeutig die Grenzen zwischen Logik und Aberglauben verschwimmen.
Unheilschwangere Luft folgte ihnen in den Keller der Fiedlers. »Ich glaube, heute Abend ist es kein falscher Alarm«, sagte Frau Fiedler, und die Kinder merkten schnell, dass ihre Eltern diesmal noch mehr Angst hatten. Sie reagierten auf die einzige Art, die sie kannten. Das Jüngste fing an zu heulen und zu schreien, während der Raum zu zittern begann.
Selbst hier unten konnten sie gedämpft die Melodie der Bomben hören. Der Luftdruck schob sich bodenwärts, wie eine Zimmerdecke, als wollte er die Erde zerquetschen. Aus Molchings leeren Straßen wurde ein Stück herausgebissen.
Rosa klammerte sich an Liesels Hand fest.
Schreiende Kinder, die um sich traten und schlugen.
Rudi stand aufrecht da, spielte den Gleichmütigen, spannte sich gegen die Anspannung an. Arme und Ellbogen kämpften um Platz. Ein paar von den Erwachsenen versuchten, die Kinder zu beruhigen. Etliche andere konnten nicht einmal sich selbst zur Ruhe zwingen.
»Bringt die Kinder zum Schweigen!«, rief Frau Holzinger, aber ihr Ruf war nur eine weitere unglückselige Stimme in dem warmen Durcheinander des Luftschutzraums. Schmutzige Tränen lösten sich aus den Augen der Kinder, und der Geruch von nächtlichem Atem, Achselschweiß und ungewaschenen Kleidern wurde umgerührt und erhitzt in dem Raum, der jetzt mehr einem Kessel glich, in dem menschliche Wesen schwammen.
Obwohl sie nebeneinander standen, musste Liesel schreien, um sich bemerkbar zu machen: »Mama?« Noch einmal. »Mama, du zerdrückst mir die Hand!«
»Was?«
»Meine Hand!«
Rosa ließ sie los, und um sich zu trösten und dem Tumult um sich herum zu entgehen, öffnete Liesel eines ihrer Bücher und fing an zu lesen. Das oberste Buch auf dem Stapel war Der Pfeifer, und sie las laut, um sich besser konzentrieren zu können. Der erste Absatz lag taub in ihren Ohren.