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Gelegenheit: geeigneter Augenblick, günstige Umstände für

die Ausführung von etwas, eines Plans, Vorhabens.

Synonyme: Chance, Möglichkeit.

Rosa stand schon hinter ihr. »Was willst du denn hier? Willst du jetzt auch noch auf meinen Küchenboden spucken?«

Frau Holzinger ließ sich nicht im Mindesten beirren. »Begrüßt du so jeden, der an deine Tür klopft? Was für ein G’sindel!«

Liesel schaute zu. Unglücklicherweise stand sie genau zwischen den beiden Frauen. Rosa zog sie aus dem Weg. »Also, sagst du mir jetzt, was du willst, oder nicht?«

Frau Holzinger schaute wieder auf die Straße und sagte dann zu Rosa: »Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

Mama verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ach, tatsächlich?«

»Nein, nicht dir.« Sie ließ Rosa mit Verachtung in der Stimme links liegen und schaute Liesel an. »Dir.«

»Warum wolltest du dann mich sprechen?«

»Na, ich brauche doch wenigstens deine Erlaubnis.«

Oh, Maria, Heilige Muttergottes, dachte Liesel. Das hat mir noch gefehlt. Was zum Donner kann sie nur von mir wollen?

»Das Buch, das du im Luftschutzraum gelesen hast, hat mir gefallen.«

Nein. Das kriegst du nicht.

Liesel war zu allem entschlossen.

»Ja?«

»Ich habe eigentlich gehofft, dass ich den Rest beim nächsten Mal im Keller zu hören bekäme, aber es sieht so aus, als würde man uns in Ruhe lassen.« Sie rollte mit den Schultern und reckte den Draht in ihrem Rücken. »Also möchte ich, dass du zu mir kommst und mir vorliest.«

»Du hast vielleicht Nerven, Holzinger.« Rosa überlegte noch, ob sie wütend werden sollte oder nicht. »Wenn du glaubst, dass …«

»Dann spucke ich auch nicht mehr gegen eure Tür«, unterbrach Frau Holzinger sie. »Und ich gebe euch meine Kaffee-Rationen.«

Rosa beschloss, nicht wütend zu werden. »Und auch etwas Mehl?«

»Was – bist du unter die Juden gegangen? Nur den Kaffee. Du kannst ihn ja gegen Mehl eintauschen.«

Es war entschieden.

Ohne das Mädchen.

»Also gut, dann ist es abgemacht.«

»Mama?«

»Ruhe, Saumensch. Geh, und hol das Buch.« Mama wandte sich wieder zu Frau Holzinger. »An welchen Tagen passt es denn?«

»Montags und freitags, vier Uhr nachmittags. Und heute, gleich jetzt.«

Liesel folgte den soldatischen Schritten zu Frau Holzingers Haus nebenan, das ein Spiegelbild der Hubermann’schen Behausung war. Vielleicht etwas größer.

Sie setzte sich an den Küchentisch, und Frau Holzinger nahm ihr gegenüber Platz. »Lies«, sagte sie.

»Kapitel zwei?«

»Nein, Kapitel acht. Natürlich Kapitel zwei! Jetzt fang schon an, bevor ich dich rauswerfe.«

»Ja, Frau Holzinger.«

»Und hör auf mit ›Ja, Frau Holzinger‹. Mach endlich das Buch auf. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Du lieber Gott, dachte Liesel. Das ist meine Strafe für das Stehlen. Jetzt hat sie mich schließlich doch noch ereilt.

Sie las eine Dreiviertelstunde lang, und als das Kapitel beendet war, schob sich eine Tüte mit Kaffee auf den Tisch.

»Danke«, sagte die Frau. »Es ist eine gute Geschichte.« Sie drehte sich zum Herd um und setzte Kartoffeln auf. Ohne sich umzublicken, sagte sie: »Bist du immer noch da?«

Liesel verstand dies als Aufforderung, sich zu entfernen. »Danke schön, Frau Holzinger.« An der Tür sah sie die gerahmten Fotos von zwei jungen Männern in Uniform und warf ein »Heil Hitler« hinterher, wobei sie den Arm in Richtung Küche hob.

»Ja.« Frau Holzinger war stolz und furchtsam. Zwei Söhne in Russland. »Heil Hitler.« Sie brachte das Wasser zum Kochen und raffte sich sogar auf, Liesel ein paar Schritte in Richtung Tür zu begleiten. »Bis morgen?«

Der nächste Tag war ein Freitag. »Ja, Frau Holzinger. Bis morgen.«

Liesel rechnete später aus, dass sie noch vier Mal zu Frau Holzinger ging und ihr vorlas, bis die Juden durch Molching getrieben wurden.

Sie gingen nach Dachau, um sich zu konzentrieren.

Das macht zwei Wochen, schrieb sie später im Keller. Zwei Wochen, um die Welt zu verändern, und vierzehn Tage, um sie zu ruinieren.

DER LANGE MARSCH NACH DACHAU

Manche Leute behaupten, dass der Lastwagen eine Panne hatte, aber ich kann euch versichern, dass das nicht stimmt. Ich war dabei.

In Wirklichkeit war es ein Meereshimmel mit weißer Wolkengischt.

Und in Wirklichkeit gab es auch mehr als ein Fahrzeug. Drei Lastwagen haben nicht alle gleichzeitig eine Panne.

Als die Soldaten anhielten, um Essen und Zigaretten miteinander zu teilen und die Gepäckstücke der Juden zu durchwühlen, brach einer der Gefangenen halb verhungert und krank zusammen. Ich habe keine Ahnung, woher der Transport kam, aber es waren noch gut sechs Kilometer bis Molching und noch viel mehr Schritte bis zum Konzentrationslager in Dachau.

Ich kletterte durch die Windschutzscheibe des Lastwagens, fand den verstorbenen Mann und sprang hinten wieder heraus. Seine Seele war hager. Sein Bart war verknotet und verworren. Meine Füße landeten geräuschvoll auf dem Kies, aber weder die Soldaten noch die Gefangenen hörten einen Laut. Doch sie alle konnten mich riechen.

Mein Gedächtnis sagt mir, dass es hinten in dem Lastwagen vor Wünschen nur so wimmelte. Innere Stimmen riefen mir zu.

Warum er und nicht ich?

Gott sei Dank, dass ich es nicht bin!

Die Soldaten andererseits waren mit einer anderen Frage beschäftigt. Der kommandierende Offizier trat seine Zigarette aus und fragte die anderen mit rauchgeschwängerter Stimme: »Wann waren diese Ratten das letzte Mal an der frischen Luft?«

Sein Leutnant würgte ein Husten ab. »Sie hätten es mal wieder nötig.«

»Na, wie wäre es? Wir haben doch Zeit, oder nicht?«

»Wir haben immer Zeit, Herr Kommandant.«

»Und es ist herrliches Wetter für eine Parade, findet ihr nicht auch?«

»Stimmt, Herr Kommandant.«

»Worauf warten wir dann noch?«

Liesel spielte Fußball auf der Himmelstraße, als sie der Lärm erreichte. Zwei Jungen rangelten im Mittelfeld um den Ballbesitz. Dann hörte alles auf. Sogar Tommi Müller konnte es hören. »Was ist denn das?«, fragte er, im Tor stehend.

Alle wandten sich in die Richtung, aus der sich das Geräusch von schlurfenden Füßen und militärischen Stimmen näherte.

»Ist das eine Herde Rinder?«, wunderte sich Rudi. »Das kann doch nicht sein. So hört sich das nicht an, oder?«

Langsam gingen die Kinder auf das Geräusch zu, wie magisch davon angezogen. Sie kamen bei Frau Lindners Laden vorbei. Von Zeit zu Zeit erhoben sich die Stimmen zu Gebrüll.

In einer Wohnung im Obergeschoss eines Hauses an der Ecke zur Münchener Straße stand eine alte Dame am Fenster und verkündete mit unheilschwangerer Stimme den Ursprung des Aufruhrs.

Hoch oben am Fenster sah ihr Gesicht aus wie eine weiße Fahne, mit feuchten Augen und offenem Mund. Ihre Stimme wollte sich das Leben nehmen, schien mit einem Klappern vor Liesels Füßen zu landen.

Sie hatte graue Haare.

Ihre Augen waren dunkelblau.

»Die Juden«, sagte sie. »Die Juden.«

DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH – SECHSTER EINTRAG

Leid: a) tiefer seelischer Schmerz als Folge

erfahrenen Unglücks.

Synonyme: Gram, Jammer, Kummer, Pein,

Qual, Schmerz, Unglück.

b) Unrecht, Böses, das jemandem zugefügt wird.

Synonyme: Unglück, Unrecht.