Rudi wollte es aufheben, aber ein vorbeigehender Jude riss es ihm aus der Hand, und zwei andere balgten sich mit ihm darum, während sie ihren Weg nach Dachau fortsetzten.
Da liefen silbrige Augen über.
Ein Karren wurde umgeworfen, und Farbe floss auf die Straße.
Man nannte ihn einen Judenfreund.
Andere schwiegen und halfen, ihn in Sicherheit zu bringen.
Hans Hubermann hatte sich vorgebeugt und die Arme ausgestreckt. Mit den Händen stützte er sich an eine Hauswand. Er war mit einem Mal überwältigt von dem, was gerade geschehen war.
Ein Bild tauchte auf, schnell und glühend.
Himmelstraße 33 – der Keller.
Panik verfing sich zwischen seinen rasselnden Atemzügen.
Jetzt werden sie kommen. Jetzt werden sie kommen.
O Herr Jesus, o Herr Jesus.
Er schaute das Mädchen an und schloss die Augen.
»Bist du verletzt, Papa?«
Als Antwort kam eine Gegenfrage.
»Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Fest presste er die Augenlider zu und öffnete sie wieder. Sein Arbeitskittel war zerknittert. Überall an seinen Händen waren Farbe und Blut. Und Brotkrumen. Aber ganz anders als das Brot des Sommers. »O mein Gott, Liesel, was habe ich getan?«
Ja.
Ich kann es nicht leugnen.
Was hatte Papa getan?
FRIEDE
Kurz nach elf Uhr in derselben Nacht ging Max Vandenburg durch die Himmelstraße, mit einem Koffer voller warmer Kleider und Lebensmittel.
Deutsche Luft hing in seinen Lungen.
Die gelben Sterne glühten, als würden sie brennen.
Als er Frau Lindners Eckladen erreichte, blickte er sich ein letztes Mal zur Nummer 33 um. Er konnte die Gestalt nicht sehen, die hinter dem Küchenfenster stand, aber sie sah ihn. Sie winkte, und er winkte nicht zurück.
Liesel fühlte noch seine Lippen auf ihrer Stirn. Sie roch noch seinen Abschiedsatem.
»Ich habe etwas für dich dagelassen«, sagte er, »aber du wirst es erst bekommen, wenn du bereit dafür bist.«
Er ging.
»Max?«
Er kam nicht zurück.
Er war aus ihrem Zimmer gegangen und hatte leise die Tür geschlossen.
Im Flur murmelte es.
Er war weg.
Als sie in die Küche kam, standen Mama und Papa mit krummen Körpern und eingefrorenen Gesichtern. So standen sie schon dreißig Sekunden der Ewigkeit da.
Stille: Zustand, bei dem kein Laut zu hören ist.
Synonyme: Friede, Ruhe, Schweigen.
Wie vollkommen.
Friede.
Irgendwo in der Nähe von München lief ein deutscher Jude durch die Dunkelheit. Vier Tage später war er mit Hans Hubermann verabredet (falls man diesen nicht abholte). Als Treffpunkt war eine Stelle an der Amper ausgemacht worden, dort wo eine zerbrochene Brücke zwischen Fluss und Bäumen lehnte.
Er würde dorthin gehen, aber er würde nur ein paar Minuten bleiben.
Alles, was Papa vier Tage später dort vorfand, war ein Zettel unter einem Stein, am Fuß eines Baums. Er war nicht adressiert und enthielt lediglich einen einzigen Satz.
Ihr habt genug getan.
Noch mehr als früher war die Himmelstraße 33 nun ein Ort der Stille, und es blieb nicht unbemerkt, dass das Duden Bedeutungswörterbuch sich gründlich irrte, was die Definition des Wortes und besonders die verwandten Wörter betraf.
Stille mochte zwar Schweigen sein, aber keine Ruhe und ganz sicher kein Friede.
DER IDIOT UND DIE MANTELMÄNNER
In der Nacht nach dem Marsch der Juden saß der Idiot in der Küche, trank bittere Schlucke von Frau Holzingers Kaffee und sehnte sich nach einer Zigarette. Er wartete auf die Gestapo, die Soldaten, die Polizei – auf irgendjemanden, der ihn abholen würde, so wie er es zu verdienen glaubte. Rosa befahl ihm, zu Bett zu kommen. Das Mädchen lungerte im Türrahmen herum. Er schickte sie beide weg und verbrachte die Stunden bis zum Morgen mit dem Kopf in den Händen. Wartend.
Niemand kam.
Jede Zeitspanne brachte die Erwartung der Klopfgeräusche und der drohenden Worte mit sich.
Aber sie kamen nicht.
Das einzige Geräusch machte er selbst.
»Was habe ich getan?«, fragte er wieder, flüsternd.
»Lieber Gott, was gäbe ich nicht für eine Zigarette«, antwortete er sich selbst. Er war völlig erledigt.
Liesel hörte die sich wiederholenden Sätze, mehrere Male, und es kostete sie viel Überwindung, im Türrahmen stehen zu bleiben. Sie hätte ihn so gern getröstet, aber sie hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so am Boden zerstört war. In dieser Nacht gab es keinen Trost. Max war weg, und Hans Hubermann trug die Verantwortung dafür.
Die Küchenschränke hatten die Form von Schuld, und in seinen Handflächen klebte ölig die Erinnerung an das, was er getan hatte. Sie müssen ja schwitzig sein, dachte Liesel, wenn meine eigenen schon bis zu den Handgelenken nass sind.
Zurück in ihrem Zimmer betete sie.
Hände, Knie, Unterarme gegen die Matratze gelehnt.
»Bitte, Gott, lass Max überleben. Bitte, Gott, bitte...«
Ihre leidenden Knie.
Ihre schmerzenden Füße.
Mit dem ersten Licht des Tages wachte sie auf und ging wieder in die Küche. Papa schlief mit dem Kopf auf der Tischplatte. In einem Mundwinkel hatte sich etwas Speichel angesammelt. Der Geruch nach Kaffee war überwältigend, und das Bild von Hans Hubermanns dummer Freundlichkeit hing immer noch in der Luft. Es war wie eine Zahl oder eine Adresse. Wenn man sie ein paar Mal wiederholt, bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf.
Ihr erster Versuch, ihn zu wecken, blieb ungespürt, aber als sie ein zweites Mal an seiner Schulter rüttelte, schoss sein Kopf erschrocken in die Höhe.
»Sind sie da?«
»Nein, Papa, ich bin’s nur.«
Er trank den abgestandenen Kaffee aus. Sein Adamsapfel hob und senkte sich. »Sie hätten schon längst hier sein sollen. Warum sind sie noch nicht da, Liesel?«
Es war eine Beleidigung.
Sie hätten kommen und das Haus auf den Kopf stellen sollen, hätten nach Beweisen für seine Judenfreundlichkeit oder seine verräterischen Absichten suchen sollen, aber es sah ganz so aus, als wäre Max völlig umsonst gegangen. Er könnte jetzt schlafend im Keller liegen oder an seinem Skizzenbuch arbeiten.
»Du konntest nicht wissen, dass sie nicht kommen würden, Papa.«
»Ich hätte wissen müssen, dass ich dem Mann kein Brot geben durfte. Ich habe einfach nicht nachgedacht.«
»Papa, du hast nichts falsch gemacht.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Er stand auf und ging zur Küchentür hinaus, ließ sie einen Spalt offen. Zu allem Überfluss war es ein herrlicher Morgen.
Nachdem vier Tage vergangen waren, ging Papa an der Amper entlang. Er ging eine lange Strecke. Als er zurückkam, brachte er einen kleinen Zettel mit und legte ihn auf den Küchentisch.
Eine weitere Woche verging, und immer noch wartete Hans Hubermann auf seine Bestrafung. Die Striemen auf seinem Rücken vernarbten, und er verbrachte viel Zeit damit, durch Molching zu laufen. Frau Lindner spuckte ihm vor die Füße. Frau Holzinger hielt ihr Versprechen und spuckte die Tür der Hubermanns nicht mehr an. Frau Lindner war ein würdiger Ersatz. »Ich wusste es«, verhöhnte ihn die Frau, »Sie dreckiger Judenfreund.«
Unbeteiligt ging er weiter. Oft fand Liesel ihn an der Amper, auf der Brücke. Seine Arme lagen auf dem Geländer, und er beugte seinen Oberkörper darüber hinweg. Kinder auf Fahrrädern sausten an ihm vorbei, oder sie rannten mit lauten Stimmen über das Holz. Nichts von alledem berührte ihn auch nur im Mindesten.