Trauer: seelischer Schmerz über ein Unglück oder
einen Verlust.
Synonyme: Schwermut, Wehmut.
»Siehst du ihn?«, fragte er Liesel eines Nachmittags, als sie neben ihm stand und sich ebenfalls über das Geländer beugte. »Da unten im Wasser.«
Der Fluss strömte nicht besonders schnell. In den langsam rollenden Wellen sah Liesel die Kontur von Max Vandenburgs Gesicht, sah sein fedriges Haar und den Rest von ihm. »Er hat in unserem Keller gegen den Führer geboxt.«
»Jesus, Maria und Josef.« Papas Hände krampften sich um das Geländer. »Ich bin so ein Idiot.«
Nein, Papa.
Du bist nur ein Mensch.
Die Worte fielen ihr über ein Jahr später ein, als sie im Keller schrieb.
Sie wünschte, sie hätte sie damals schon gehabt.
»Ich bin dumm«, sagte Hans Hubermann zu seiner Pflegetochter. »Und ich bin freundlich. Was mich zum größten Idioten der ganzen Welt macht. Die Sache ist die: Ich will, dass sie mich holen kommen. Alles ist besser als diese Warterei.«
Hans Hubermann brauchte eine Rechtfertigung. Er musste Gewissheit haben, dass Max Vandenburg sein Haus aus gutem Grund verlassen hatte.
Endlich, nach drei Wochen des Wartens, glaubte er seinen Moment gekommen.
Es war spät.
Liesel kehrte von Frau Holzinger zurück, als sie zwei Männer in langen schwarzen Mänteln sah. Sie rannte ins Haus.
»Papa! Papa!« Sie hätte beinahe den Küchentisch umgeworfen. »Papa, sie sind hier!«
Mama kam zuerst. »Was soll dieses Geschrei, Saumensch? Wer ist hier?«
»Die Gestapo.«
»Hansi!«
Er war schon da, und er ging vor das Haus, um sie zu begrüßen. Liesel wollte mitkommen, aber Rosa hielt sie zurück, und die beiden schauten durchs Fenster zu.
Papa stand abmarschbereit am Tor. Er war ganz zappelig.
Mama packte Liesel am Arm.
Die Männer gingen vorbei.
Papa schaute erschrocken zum Fenster, wo Liesel und Rosa Hubermann standen. Dann ging er zum Tor hinaus. Er rief ihnen nach: »He! Hier bin ich! Sie suchen doch mich! Ich wohne hier!«
Die Mantelmänner blieben einen Moment lang stehen und schauten in ihren Notizbüchern nach. »Nein, nein«, sagten sie zu Hans. Ihre Stimmen waren tief und wuchtig. »Sie sind ein bisschen zu alt für unsere Zwecke.«
Sie gingen weiter, aber nicht sehr weit. Vor Haus Nummer 35 blieben sie kurz stehen und traten dann durch das Tor.
»Frau Steiner?«, fragten sie, als ihnen die Tür geöffnet wurde.
»Ja?«
»Wir möchten gerne mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit sprechen.«
Die Mantelmänner standen wie bekleidete Steinsäulen auf der Schwelle zu Steiners kleinem Häuschen.
Aus irgendeinem Grund fragten sie nach dem Jungen.
Die Mantelmänner waren wegen Rudi gekommen.
TEIL 8
DIE WORTESCHÜTTLERIN
Es wirken mit:
Dominos und Dunkelheit – die Überlegung, wie Rudi nackt
aussieht – Strafe – die Frau eines Mannes, der sein
Versprechen hält – ein Sammler – die Brotesser – eine Kerze in
den Bäumen – ein verstecktes Skizzenbuch – und die
Anzugsammlung des Anarchisten
DOMINOS UND DUNKELHEIT
Mit den Worten von Rudis jüngster Schwester gesprochen: Da saßen zwei Ungeheuer in der Küche. Ihre Stimmen kneteten systematisch die Tür, auf deren anderer Seite drei der Steiner-Kinder Domino spielten. Die anderen drei saßen ahnungslos im Schlafzimmer und hörten Radio. Rudi hoffte, dass das alles nichts mit der Sache zu tun hatte, die letzte Woche in der Schule passiert war. Es war etwas, das er Liesel nicht hatte erzählen wollen und worüber er auch zu Hause nicht sprach.
Drei Jungen standen in einer Reihe. Ihre Akten und ihre
Körper wurden gründlich gemustert.
Nach dem vierten Dominospiel stellte Rudi die Steine in Reihen auf, erschuf Muster, die sich quer durchs Wohnzimmer zogen. Wie immer ließ er hier und da ein paar Lücken frei, für den Fall, dass eines seiner Geschwister seinen vorwitzigen Finger dazwischensteckte, wie es gewöhnlich geschah.
»Darf ich sie umwerfen, Rudi?«
»Nein.«
»Und ich?«
»Nein. Wir machen es zusammen.«
Er baute drei getrennte Reihen, die alle zu dem Turm aus Dominosteinen in der Mitte führten. Zusammen konnten sie dann zuschauen, wie alles, was sie so sorgfältig aufgerichtet hatten, zusammenbrach, und alle würden lächeln angesichts der Schönheit dieser Zerstörung.
Die Stimmen in der Küche wurden jetzt lauter. Eine fuhr über die andere, um sich Gehör zu verschaffen. Sätze kämpften um Aufmerksamkeit, bis eine Person, die bislang geschwiegen hatte, sich dazwischenschob.
»Nein«, sagte sie. Und noch einmaclass="underline" »Nein.« Und obwohl die anderen mit dem Streit fortfuhren, wurden sie erneut von derselben Stimme zum Schweigen gebracht. »Bitte«, flehte Barbara Steiner sie an. »Nicht mein Junge.«
»Dürfen wir eine Kerze anzünden, Rudi?«
So hatte es ihr Vater oft mit ihnen gemacht. Er schaltete das Licht aus, und im Kerzenschein schauten sie zu, wie die Dominosteine umfielen. Das verlieh dem Ereignis eine gewisse Erhabenheit.
Rudis Beine schmerzten ihn ohnehin. »Ich gehe ein Streichholz holen.«
Der Lichtschalter befand sich neben der Tür.
Leise ging er mit der Streichholzschachtel in der einen und der Kerze in der anderen Hand darauf zu.
Von der anderen Seite der Tür erklommen die Stimmen der drei Männer und der Frau die Scharniere. »Die besten Noten der Klasse«, sagte eines der Ungeheuer. Eine solche Tiefe und Trockenheit. »Von seinen sportlichen Leistungen gar nicht zu reden.« Verdammt nochmal, warum musste er auch die ganzen Rennen beim Sportfest gewinnen?
Deutscher.
Verdammt sollte dieser Deutscher sein.
Aber dann begriff er.
Das war nicht Franz Deutschers Schuld, sondern seine eigene. Er hatte seinem einstigen Quälgeist beweisen wollen, wozu er fähig war, aber er hatte es auch allen anderen beweisen wollen. Und jetzt waren die anderen in der Küche.
Er zündete die Kerze an und schaltete das Licht aus.
»Fertig?«
»Aber ich weiß doch, wie es da zugeht.« Das war die unverwechselbare, hölzerne Stimme seines Vaters.
»Mach schon, Rudi, beeil dich.«
»Ja, aber verstehen Sie doch, Herr Steiner, dies alles dient einem höheren Zweck. Denken Sie nur einmal an die Möglichkeiten, die sich Ihrem Sohn eröffnen. Das ist ein wirkliches Privileg.«
»Rudi, die Kerze tropft schon.«
Er scheuchte sie weg und wartete wieder auf Alex Steiner. Er kam.
»Privileg? Zum Beispiel barfuß durch den Schnee rennen? Oder von einem Zehn-Meter-Sprungbrett in einen Meter tiefes Wasser springen?«
Rudis Ohr lag nun fest an der Tür. Kerzenwachs schmolz auf seine Hand.
»Gerüchte.« Die trockene, dürre Stimme, tief und sachlich, hielt eine Antwort auf alles bereit. »Unsere Schule ist eine der besten, die es je gab. Nein, sie ist die beste. Wir formen eine deutsche Elite, im Namen des Führers...«
Rudi konnte nicht länger zuhören.
Er kratzte sich das Kerzenwachs von der Hand und zog sich von dem Splitter aus Licht zurück, der durch einen Spalt in der Tür fiel. Als er sich hinsetzte, ging die Flamme aus. Er hatte sich zu heftig bewegt. Dunkelheit strömte herein. Das einzige Licht, das zur Verfügung stand, war eine weiße, rechteckige Schablone in Form der Küchentür.