Dann kam das Mädchen dran.
»Papa?«
Nichts.
Geh nicht, Papa. Geh bitte nicht. Sollen sie doch kommen. Aber bitte, bitte geh nicht.
»Papa?«
DREI UHR NACHMITTAGS
Keine Stunden, keine Minuten mehr bis zum Abschied:
Er hält sie. Um etwas zu sagen, irgendetwas, spricht er über
ihre Schulter hinweg. »Passt du bitte auf mein Akkordeon
auf, Liesel? Ich habe mich entschlossen, es nicht
mitzunehmen.« Jetzt fällt ihm etwas wirklich Wichtiges
ein. »Und wenn es noch mehr Luftangriffe gibt, lies den
Leuten im Keller weiter vor, ja?«
Das Mädchen spürt den Druck an ihren wachsenden
Brüsten. Es tut weh, als er auf ihren Rippenbogen trifft.
»Ja, Papa.« Sie starrt auf den Stoff seiner Jacke, der nur
wenige Millimeter von ihren Augen entfernt ist. Sie spricht
in ihn hinein. »Wirst du für uns spielen, wenn du
heimkommst?«
Hans Hubermann lächelte seine Tochter an, und dann war der Zug bereit zur Abfahrt. Er streckte die Hand aus und umfasste sanft ihr Gesicht. »Das verspreche ich.« Dann stieg er ein.
Sie schauten einander an, während der Zug anfuhr.
Liesel und Rosa winkten.
Hans Hubermann wurde kleiner und kleiner, und in seiner Hand hielt er nichts außer leerer Luft.
Auf dem Bahnsteig zerstreute sich die Menge, bis niemand mehr dastand, außer einer Frau wie ein Kleiderschrank und einem dreizehnjährigen Mädchen.
In den nächsten paar Wochen, während Hans Hubermann und Alex Steiner in aller Eile durch ihre Ausbildung gehetzt wurden, herrschte in der Himmelstraße dicke Luft. Rudi war wie ausgewechselt – er sprach kaum noch. Mama war nicht sie selbst – sie fluchte nicht mehr. Auch Liesel spürte die Veränderung. Sie hatte kein Verlangen, ein Buch zu stehlen, egal wie sehr sie sich davon zu überzeugen versuchte, dass es sie aufmuntern würde.
Alex Steiner war seit zwölf Tagen weg, da hatte Rudi die Nase voll. Er sauste durch das Tor und klopfte an Liesels Tür.
»Kommst du?«
»Ja.«
Es war ihr egal, wohin er ging oder was er vorhatte. Hauptsache, er nahm sie mit. Sie gingen durch die Himmelstraße, durch die Münchener Straße und dann aus Molching heraus. Erst nach etwa einer Stunde stellte Liesel die entscheidende Frage. Bis dahin hatte sie lediglich hin und wieder einen Blick auf Rudis entschlossenes Gesicht oder auf seine steifen Arme und seine Hosentaschen geworfen, in denen seine zu Fäusten geballten Hände steckten.
»Wohin gehen wir?«
»Ist das nicht offensichtlich?«
Sie musste sich abmühen, um mit ihm Schritt zu halten. »Ähm, um ehrlich zu sein – nein.«
»Ich will ihn suchen.«
»Deinen Papa?«
»Ja.« Dann dachte er nach. »Oder nein. Ich glaube, ich suche zuerst den Führer.«
Die Schritte wurden noch schneller. »Warum?«
Rudi blieb stehen. »Weil ich ihn umbringen will.« Er drehte sich einmal um die eigene Achse und sprach zum Rest der Welt. »Habt ihr das gehört, ihr Mistkerle?«, schrie er. »Ich bringe ihn um!«
Sie gingen weiter und legten noch ein paar Kilometer zurück. Dann verspürte Liesel das Verlangen umzukehren. »Es wird bald dunkel, Rudi.«
Er ging weiter. »Na und?«
»Ich gehe zurück.«
Rudi blieb stehen und schaute sie an, als würde sie ihn verraten. »So ist’s richtig, Bücherdiebin. Lass mich ruhig allein. Ich wette, wenn da am Ende des Weges ein blödes Buch auf dich warten würde, würdest du weitergehen. Stimmt’s?«
Eine Zeit lang sagte keiner von ihnen etwas, dann raffte Liesel all ihren Willen zusammen. »Glaubst du, du bist der Einzige, du Saukerl?« Sie drehte sich um. »Du hast doch nur deinen Vater verloren.«
»Was soll das denn heißen?«
Liesel zählte sie, lautlos.
Ihre Mutter. Ihr Bruder. Max Vandenburg. Hans Hubermann. Alle waren sie weg. Und ihren leiblichen Vater hatte sie nicht einmal gekannt.
»Das heißt«, sagte sie, »dass ich heimgehe.«
Fünfzehn Minuten lang ging sie alleine, und auch als Rudi sich keuchend und schwitzend zu ihr gesellte, sprach mehr als eine Stunde lang keiner von ihnen ein Wort. Sie gingen einfach mit wehen Füßen und müden Herzen nebeneinanderher.
In Ein Lied im Dunkeln gab es ein Kapitel mit dem Titel »Müde Herzen«. Ein junges Mädchen hatte sich einem Mann versprochen, aber es stellte sich heraus, dass er mit ihrer besten Freundin durchgebrannt war. Liesel glaubte sich zu erinnern, dass es Kapitel 13 war. »Mein Herz ist so müde«, hatte das Mädchen gesagt. Sie saß in einer Kapelle und schrieb in ihr Tagebuch.
Nein, dachte Liesel, während sie nach Hause ging. Mein Herz ist müde. Ein dreizehnjähriges Herz sollte sich nicht so anfühlen.
Als sie die Außenbezirke von Molching erreichten, warf Liesel ein paar Worte zur Seite. Sie schaute zum Sportplatz. »Weißt du noch, wie wir hier Rennen gelaufen sind, Rudi?«
»Na klar. Ich habe auch gerade daran denken müssen – wie wir beide hingefallen sind.«
»Du hast gesagt, du wärst in Scheiße gefallen.«
»Es war bloß Dreck.« Er konnte seiner Belustigung nicht mehr Einhalt gebieten. »Bei der Hitlerjugend bin ich in Scheiße gefallen – in Kuhdung. Du bringst alles durcheinander, Saumensch.«
»Ich bringe nichts durcheinander. Ich sage nur, was du behauptet hast. Was jemand sagt und was passiert ist, ist gewöhnlich zweierlei, Rudi, besonders bei dir.«
So war es schon besser.
Auf dem Rückweg durch die Münchener Straße blieb Rudi stehen und schaute durch das Schaufenster in den Laden seines Vaters. Ehe Alex die Stadt verlassen hatte, hatten er und Barbara darüber gesprochen, ob sie die Schneiderei während seiner Abwesenheit weiterführen sollte. Sie entschieden sich dagegen, zumal die Geschäfte in letzter Zeit ohnehin nicht gut gelaufen waren. Außerdem war es durchaus möglich, dass zumindest einige Parteimitglieder immer noch eine Bedrohung darstellten. Unruhestifter und Querulanten sollten die Finger von Geschäften lassen. Der Sold von Alex Steiner würde reichen müssen.
An den Kleiderstangen hingen Anzüge, und die Schaufensterpuppen standen in lächerlichen Posen da. »Ich glaube, die da mag dich«, sagte Liesel nach einer Weile. Es war ihre Art, ihm zu sagen, dass es Zeit war weiterzugehen.
Rosa Hubermann und Barbara Steiner standen gemeinsam auf dem Bürgersteig der Himmelstraße.
»O Jesus«, sagte Liesel. »Die sehen aus, als hätten sie sich Sorgen gemacht.«
»Die sehen stinkwütend aus.«
Als sie nach Hause kamen, prasselten Fragen auf sie ein, hauptsächlich von der Art wie: »Wo zum Teufel habt ihr zwei gesteckt?«, aber der Zorn wandelte sich schnell in Erleichterung.
Barbara allerdings bestand auf einer Antwort: »Nun, Rudi?«
Liesel antwortete an seiner Stelle: »Er hat den Führer umgebracht«, sagte sie, und Rudi schaute sie so ehrlich erfreut an, dass sie sich unwillkürlich mit ihm freute.
»Mach’s gut, Liesel.«
Etliche Stunden später drang Lärm aus dem Wohnzimmer. Er schlich sich zu Liesel ins Bett. Sie wachte auf und blieb still, dachte an Gespenster, an Papa und an Einbrecher und an Max. Geräusche von Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, kamen als Nächstes, und dann eine faserige Stille. Die Stille war die größte Versuchung.
Nicht bewegen.
Sie dachte es öfter als ein Mal, aber nicht oft genug.