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Ihre Füße zankten mit dem Fußboden.

Luft atmete durch ihre Pyjamajacke.

Sie ging durch die Dunkelheit des Flurs in Richtung der Stille, die vor Kurzem noch Lärm gewesen war, zu dem Faden aus Mondlicht, der im Wohnzimmer lag. Sie blieb stehen und spürte die Nacktheit ihrer Knöchel und Zehen. Sie schaute.

Ihre Augen brauchten länger als erwartet, um in dem Dämmerlicht etwas zu sehen, und als sie es taten, gab es keinen Zweifeclass="underline" Rosa Hubermann saß auf der Bettkante, das Akkordeon ihres Mannes vor der Brust. Ihre Finger lauerten über den Tasten. Sie rührte sich nicht. Sie schien nicht einmal zu atmen.

Der Anblick warf sich dem Mädchen im Flur entgegen.

EIN GEMÄLDE

Titeclass="underline" Rosa mit Akkordeon.

Technik: Mondlicht auf Dunkel.

Maße: 5,1 Zoll × Instrument × Schweigen.

Liesel blieb und schaute.

Minuten tröpfelten vorbei. Das Verlangen der Bücherdiebin, einen Ton zu vernehmen, war ermüdend, und doch war nichts zu hören. Die Tasten wurden nicht berührt. Die Blasebälge atmeten nicht. Da war nur das Mondlicht, wie eine lange Haarsträhne zwischen den Vorhängen, und da war Rosa.

Das Akkordeon blieb an ihrer Brust. Dann neigte sie den Kopf, und es sank in ihren Schoß. Liesel schaute. Sie wusste, dass Mama nun ein paar Tage lang mit dem Abdruck des Akkordeons auf ihrem Körper herumlaufen würde. Und sie wusste genau, dass in dem, was sie gerade sah, eine unglaubliche Schönheit lag. Sie hütete sich, diese Schönheit zu zerstören.

Sie ging wieder ins Bett und schlief mit dem Bild ihrer Mama und der schweigenden Musik ein. Später, als sie aus ihrem vertrauten Traum erwachte und wieder in den Flur ging, war Rosa immer noch da, genauso wie das Akkordeon.

Wie ein Anker zog es sie nach unten. Ihr Körper war vornübergesunken. Sie wirkte tot.

In dieser Stellung kann sie doch unmöglich atmen, dachte Liesel, aber als sie näher schlich, hörte sie es.

Mama schnarchte.

Wer braucht schon Blasebälge, dachte Liesel, wenn man eine solche Lunge hat?

Als Liesel schließlich ins Bett zurückkehrte, ließ das Bild von Rosa Hubermann und dem Akkordeon sie nicht los. Die Augen der Bücherdiebin blieben offen. Sie wartete darauf, dass der Schlaf das Bild erstickte.

DER SAMMLER

Weder Hans Hubermann noch Alex Steiner wurden an die Front geschickt. Alex kam nach Österreich, in ein Wehrmachtskrankenhaus außerhalb von Wien. Aufgrund seiner Erfahrung im Schneiderhandwerk teilte man ihm eine Arbeit zu, die wenigstens entfernt mit seinem Beruf zu tun hatte. Jede Woche kamen kistenweise Uniformen und Socken und Hemden, und er flickte, was geflickt werden musste, selbst wenn die Kleidung nur noch als Unterwäsche für die leidenden Soldaten in Russland Verwendung finden konnte.

Hans wurde – Ironie des Schicksals – zuerst nach Stuttgart abkommandiert und später nach Essen. Er bekam den ungeliebtesten Posten der ganzen Heimatfront. Er kam zur LSE.

EINE NOTWENDIGE ERKLÄRUNG

LSE = Luftwaffensondereinheit

Die Aufgabe der LSE war, während der Luftangriffe oben zu bleiben und Feuer zu löschen, die Wände von Gebäuden abzustützen und den Menschen zu helfen, die in den Trümmern eingeschlossen oder verletzt waren. Hans erfuhr recht schnell, dass die Abkürzung noch eine andere Bedeutung hatte. Die Männer in seiner Einheit erklärten ihm gleich am ersten Tag, dass die drei Buchstaben in Wahrheit für »Leichensammlereinheit« standen.

Bei seiner Ankunft konnte Hans nur vermuten, was diese Männer, denen man eine solche Aufgabe zugeteilt hatte, angestellt hatten, und umgekehrt stellten sie über ihn die gleichen Vermutungen an. Ihr Anführer, Unteroffizier Boris Schipper, fragte ihn rundheraus danach. Als Hans die Sache mit dem Brot, dem Juden und der Peitsche erzählte, lachte der Schipper kurz auf. »Sie haben Glück, dass Sie noch am Leben sind.« Die Augen in seinem runden Gesicht waren ebenfalls rund, und er wischte ständig darüber. Entweder waren sie müde, oder sie juckten, oder sie waren voller Rauch und Staub. »Denken Sie nur daran, dass Sie hier bei uns den Feind nicht vor Augen haben.«

Hans wollte eine Frage stellen, als hinter ihm eine Stimme eintraf. Ihr zugehörig war das schlanke Gesicht eines jungen Mannes, mit einem Lächeln aus Hohn. Reinhold Zucker. »Bei uns«, erklärte er, »befindet sich der Feind nicht hinter einem Hügel oder überhaupt in irgendeiner bestimmten Richtung voraus. Er ist überall um uns herum.« Er konzentrierte sich wieder auf den Brief, den er gerade schrieb. »Sie werden es ja selbst erleben.«

Nach einem wirren Zeitraum von ein paar Monaten würde Reinhold Zucker tot sein. Getötet durch Hans Hubermanns Sitz.

Während der Krieg mit vermehrter Heftigkeit in Deutschland Einzug hielt, begriff Hans, dass jede seiner Schichten auf die gleiche Art und Weise ihren Anfang nahm. Die Männer versammelten sich am Lastwagen, um darüber informiert zu werden, was während ihrer Pause getroffen worden war, was wahrscheinlich als Nächstes getroffen werden würde und wer mit wem zusammenarbeiten sollte.

Selbst wenn es keine Luftangriffe gab, hatten sie alle Hände voll zu tun. Sie fuhren durch zerstörte Städte und räumten auf. Im Lastwagen kauerten sich zwölf Männer zusammen und wurden auf und ab geworfen, je nach Beschaffenheit der Straße.

Von Anfang an hatte jeder seinen angestammten Platz.

Reinhold Zucker saß in der Mitte der linken Reihe.

Hans Hubermanns Sitz war ganz hinten, wo sich das Tageslicht hineinstreckte. Er lernte schnell, nach allem möglichen Zeug Ausschau zu halten, das von weiter vorn im Innenraum des Lasters zu ihm geflogen kam. Er hatte besonderen Respekt vor Zigarettenkippen, die, immer noch glimmend, an ihm vorbeisegelten.

UNGEKÜRZTER BRIEF NACH HAUSE

Meine liebe Rosa, meine liebe Liesel,

bei mir ist alles in Ordnung.

Ich hoffe, es geht euch gut.

In Liebe, Papa

Ende November lag ihm zum ersten Mal der rauchige Geschmack eines richtigen Luftangriffs auf der Zunge. Der Lastwagen kämpfte sich rumpelnd durch Schutt, und überall war Gerenne und Geschrei. Feuer brannten, und die ausgebombten Hüllen von Gebäuden stapelten sich zuhauf. Rahmen und Balken bogen sich. Die Rauchbomben steckten wie Streichhölzer im Boden und drangen in die Lunge der Stadt.

Hans Hubermann arbeitete mit drei Männern in einer Gruppe. Sie bildeten eine Reihe. Boris Schipper war vorne. Seine Arme verschwanden im Rauch. Hinter ihm kam Kessler, dann Brunnenweg, dann Hubermann. Während der Unteroffizier das Feuer zu löschen versuchte, wässerten die anderen beiden Männer den Unteroffizier, nur für alle Fälle. Hubermann wässerte alle drei vor ihm Stehenden.

Hinter ihm stöhnte ein Haus und fiel um.

Es fiel mit dem Gesicht nach vorn und landete nur ein paar Meter von seinen Fersen entfernt. Der Zement roch brandneu, und eine Wand aus Puderstaub raste auf ihn zu.

»Gottverdammt, Hubermann!« Die Stimme kämpfte sich aus den Flammen. Die drei Männer folgten ihr auf dem Fuße. Ihre Kehlen waren mit Aschepartikeln verstopft. Selbst als sie es um die Ecke geschafft hatten, weg vom Zentrum der Zerstörung, schien ihnen der Dunst des zusammengefallenen Gebäudes zu folgen. Er war weiß und warm und kroch hinter ihnen her.

Sie sackten in der vorübergehenden Sicherheit zusammen, keuchten, husteten und fluchten. Der Unteroffizier wiederholte seine vorherige Äußerung. »Gottverdammt, Hubermann.« Er kratzte an seinen Lippen, um die Kruste zu entfernen. »Was zum Donner war das?«