»Es ist einfach zusammengefallen, direkt hinter uns.«
»Das ist mir auch klar. Die Frage ist: Wie hoch war es? Doch wohl gut und gerne zehn Stockwerke, oder?«
»Nein, Herr Unteroffizier, ich glaube, bloß zwei.«
»Jesus.« Ein Hustenanfall. »Maria und Josef.« Jetzt riss er an der klebrigen Masse aus Schweiß und Staub in seinen Augenhöhlen. »Da kann man nichts machen.«
Einer der anderen Männer wischte sich übers Gesicht und sagte: »Ich möchte nur ein Mal dabei sein, wenn sie eine Kneipe treffen. Ich könnte sterben für ein Bier.«
Die Männer lehnten sich zurück.
Sie alle konnten es schmecken, fühlten, wie es die Flammen in ihren Kehlen auslöschte und den Rauch besänftigte. Es war ein schöner Traum, und ein unmöglicher. Sie alle waren sich der Tatsache bewusst, dass die Flüssigkeit, die hier durch die Straßen floss, kein Bier war, sondern eine Art von Milchbrei.
Alle vier Männer waren mit einer grauweißen Schicht aus Staub überzogen. Als sie aufstanden, um mit ihrer Arbeit fortzufahren, zeigten sich nur in kleinen Spalten ihre Uniformen, die darunter lagen.
Der Unteroffizier ging zu Brunnenweg. Er klopfte ihm mehrmals schwer gegen die Brust. »So ist’s besser. Sie hatten da ein bisschen Staub, mein Freund.« Brunnenweg lachte, und der Unteroffizier wandte sich zu seinem neuesten Rekruten. »Diesmal gehen Sie vor, Hubermann.«
Etliche Stunden lang löschten sie Feuer und suchten nach allem, was man benutzen konnte, um ein Gebäude dazu zu bringen, stehen zu bleiben. Manchmal, wenn zwei Seiten zerstört waren, stachen die restlichen Ecken des Hauses heraus wie Ellbogen. Dies war Hans Hubermanns Stärke. Er kam fast immer in den Genuss, einen verkohlten Balken oder ein abgesplittertes Stück Beton zu finden, um es unter diese Ellbogen zu schieben und sie zu stützen.
Seine Hände steckten voller Splitter, und seine Zähne waren mit einem dicken Staubbelag verkrustet. Von seinen Lippen bröckelte klebriger, angetrockneter Staub, und an seiner Uniform befand sich keine Tasche, kein Faden und auch keine noch so kleine Falte, die nicht von ebendiesem Staub, Dreck und Schweiß verklebt war.
Das Schlimmste an der Sache waren die Menschen.
Regelmäßig lief jemand durch den Nebel, meist nur mit einem einzigen Wort auf den Lippen. Alle riefen sie Namen.
Manchmal war es Wolfgang.
»Haben Sie meinen Wolfgang gesehen?«
Ihre Handabdrücke blieben auf seiner Jacke.
»Stephanie!«
»Hansi!«
»Gustel! Gustel Stoboi!«
Während die Dichte zu Boden sank, rollte eine Liste aus Namen durch die aufgerissenen Straßen. Manchmal folgte dem Namen eine ascheerfüllte Umarmung, manchmal ein kniefälliges Heulen des Kummers. Sie häuften sich, Stunde um Stunde, wie süßsaure Träume, die darauf warteten, geträumt zu werden.
Die Gefahren flossen ineinander. Staub und Rauch und die böigen Flammen. Wie der Rest der Männer in seiner Einheit würde auch Hans die Kunst des Vergessens erlernen müssen.
»Wie geht’s Ihnen, Hubermann?«, fragte ihn sein Unteroffizier einmal. Feuer stand neben seiner Schulter.
Hans nickte beiden unbehaglich zu.
Die Schicht war halb vorüber, da kam ein alter Mann hilflos durch die Straßen getaumelt. Hans hatte gerade ein Gebäude abgestützt und drehte sich um. Da stand der Mann und wartete geduldig darauf, dass er an die Reihe kam. Ein Blutfleck war ihm über das Gesicht geschmiert. Er zog sich über seine Kehle und seinen Nacken. Er trug ein weißes Hemd mit einem dunkelroten Kragen und hielt sein Bein, als würde es nicht mehr zu seinem Körper gehören. »Können Sie mich auch abstützen, junger Mann?«
Hans hob ihn hoch und trug ihn aus dem Dunst heraus.
Als Hans Hubermann den Mann in den Armen trug,
besuchte ich die Straße in jener Stadt.
Der Himmel war schimmelweiß.
Erst als Hans den alten Mann niederlegte, auf einem Flecken Asphalt inmitten eines Rasens, bemerkte er es.
»Was ist los?«, fragte einer der anderen Männer.
Hans deutete nur auf den alten Mann.
»Oh.« Eine Hand zog ihn weg. »Gewöhnen Sie sich dran, Hubermann.«
Den Rest der Schicht stürzte er sich in die Arbeit. Er versuchte, die immer wiederkehrenden Echos der rufenden Menschen zu ignorieren.
Etwa zwei Stunden später eilte er mit dem Unteroffizier und zwei anderen Männern aus einem Haus. Er achtete nicht darauf, wohin er trat, und stolperte. Erst als er sich wieder aufrappelte und sah, dass die anderen bestürzt auf das Hindernis starrten, das ihn zu Fall gebracht hatte, erkannte er, was es war.
Die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten.
Sie lag unter einer Decke aus Staub und Schutt und hielt sich die Ohren zu.
Es war ein Junge.
Vielleicht elf oder zwölf Jahre alt.
Nicht weit davon entfernt, als sie weiter durch die Straße gingen, stießen sie auf eine Frau, die den Namen Rudolf rief. Sie wurde wie magisch von den vier Männern angezogen und stellte sich ihnen im Nebel in den Weg. Sie war zierlich und vor Angst und Sorge gebeugt.
»Haben Sie meinen Jungen gesehen?«
»Wie alt ist er?«, fragte der Unteroffizier.
»Zwölf.«
O Herr im Himmel. O lieber Gott.
Alle dachten sie es, aber der Unteroffizier brachte es nicht über sich, ihr etwas zu sagen oder ihr den Weg zu weisen.
Die Frau versuchte, sich an ihnen vorbeizuschieben, aber Boris Schipper hielt sie fest. »Wir kommen gerade aus dieser Straße dort«, versicherte er ihr. »Dort werden Sie ihn nicht finden.«
Die gebeugte Frau hielt immer noch an der Hoffnung fest. Sie suchte weiter, halb laufend, halb gehend, und rief über ihre Schulter: »Rudi!«
Hans Hubermann dachte an einen anderen Rudi. An den aus der Himmelstraße. Bitte, flehte er einen Himmel an, den er nicht sehen konnte, bitte beschütze Rudi. Seine Gedanken wanderten weiter zu Liesel und Rosa, zu den Steiners und zu Max.
Als sie wieder zum Rest der Einheit stießen, ließ sich Hans fallen und legte sich auf den Rücken.
»Wie war’s da unten bei euch?«, fragte jemand.
Papas Lunge war voller Himmel.
Ein paar Stunden später, nachdem er sich gewaschen, etwas gegessen und es wieder erbrochen hatte, machte er sich daran, einen ausführlichen Brief nach Hause zu schreiben. Seine Hände entzogen sich seiner Kontrolle, zwangen ihn, sich kurz zu fassen. Wenn er es über sich bringen würde, dann würde er den Rest persönlich erzählen, falls er je wieder nach Hause kommen sollte.
Meine liebe Rosa, meine liebe Liesel, begann er.
Es dauerte viele Minuten, bis diese sechs Worte geschrieben waren.
DIE BROTESSER
Molching hatte ein langes und ereignisreiches Jahr erlebt und war nun dabei, es hinter sich zu lassen.
Liesel verbrachte die letzten Wochen des Jahres 1942 in Gedanken an drei verzweifelte Männer, wie sie es nannte. Sie fragte sich, wo sie waren und was sie taten.
Eines Nachmittags holte sie das Akkordeon aus dem Koffer und polierte es mit einem Tuch. Nur ein Mal, kurz bevor sie es wieder weglegte, führte sie aus, wozu Mama nicht in der Lage gewesen war. Sie drückte mit dem Finger auf eine der Tasten und pumpte verhalten die Blasebälge.
Rosa hatte es besser gewusst.
Der Ton ließ den Raum noch leerer erscheinen.
Wann immer sie Rudi begegnete, fragte sie ihn nach Neuigkeiten von seinem Vater. Manchmal erzählte er ihr in allen Einzelheiten von einem Brief, den sie von Alex Steiner erhalten hatten. Im Vergleich dazu war der Brief ihres eigenen Papas eine leise Enttäuschung.
Was Max betraf, war alles ihrer Vorstellungskraft überlassen.