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Eine Sammlung von Gedanken

für Liesel Meminger

Liesel hielt es mit weichen Händen. Sie starrte darauf. »Danke, Mama.«

Dann umarmte sie sie.

Sie verspürte das heftige Verlangen, Rosa Hubermann zu sagen, dass sie sie liebte. Schade, dass sie es nicht tat.

Sie wollte das Buch eigentlich im Keller lesen, um der alten Zeiten willen, aber Mama schüttelte den Kopf. »Max ist nicht zufällig da unten krank geworden«, sagte sie, »und ich verspreche dir eines: Ich lasse nicht zu, dass du auch noch krank wirst.«

Sie las also in der Küche.

Rote und gelbe Lücken im Ofen.

Sie las die unzähligen Geschichten, betrachtete die Bilder und entzifferte die Bildunterschriften. Da war Rudi auf einem Podest mit drei Goldmedaillen um den Hals. »Haare wie Zitronen« stand darunter. Der Schneemann war da, ebenso wie eine Liste der dreizehn Geschenke und die Schilderung von unzähligen Nächten im Keller oder vor dem Kamin.

Natürlich gab es auch viele Gedanken, Skizzen und Träume, die von Stuttgart handelten, von Deutschland und dem Führer. Auch Erinnerungen an Max’ Familie. Schlussendlich konnte er nicht anders, als sie mit einzubeziehen. Er musste es tun.

Dann kam Seite 117.

Die Worteschüttlerin betrat die Bühne.

Es war eine Fabel oder ein Märchen, Liesel war sich nicht sicher, welches von beiden. Sogar Tage später noch, als sie die Begriffe im Duden Bedeutungswörterbuch nachschlug, konnte sie beide nicht unterscheiden.

Auf der Seite davor standen ein paar Zeilen.

SEITE 116

Liesel,

ich hätte diese Geschichte beinahe wieder herausgerissen.

Ich dachte, du bist vielleicht zu alt für eine solche

Erzählung – aber vielleicht ist das auch gar nicht möglich.

Vielleicht ist niemand zu alt dafür. Ich dachte dabei an dich

und an deine Bücher und Worte, und da fiel mir diese

merkwürdige Geschichte ein. Ich hoffe, du findest etwas

Gutes darin.

Sie blätterte um.

Die Menschen trauten ihren Augen kaum, und in dem Moment, in dem die Worteschüttlerin und der junge Mann die Welt wieder betraten, zeigten sich schließlich die Axthiebe am Stamm des Baums. Wunden erschienen. kerben bohrten sich in die Rinde, und die Erde fing an zu beben.

"Er stürzt um!", schrie eine junge Frau. Der Baum stürzt um!" Und tatsächlich: Der Baum der Worteschüttlerin neigte sich mit seiner ganzen himmelgreifenden Länge zur Seite. Er stöhnte, während er zu Boden sank. Die Welt erzitterte, und als sich alles wieder beruhigt hatte, lag der Baum mitten im Wald.

Er konnte nicht den ganzen Wald zerstören, aber immerhin hatte er eine Schneise gebahnt, und diese Schneise leuchtete in einer neuen Farbe.

Die Worteschüttlerin und der junge Mann kletterten auf den daliegenden Stamm. Sie fingen an zu laufen, umrundeten Äste und Zweige. Zurückblickend sahen sie, dass die Mehrzahl der Zuschauer sich zerstreute. Sie kehrten zurück. Hinein. Hinaus. In den Wald.

Sie liefen weiter, blieben ein paar Mal stehen, um zu lauschen. Sie glaubten, Stimmen zu hören, Worte hinter ihnen, auf dem Baum der Worteschüttlerin.

Lange Zeit saß Liesel am Küchentisch und fragte sich, wo Max Vandenburg war, in dem undurchdringlichen Dickicht da draußen. Das Licht senkte sich um sie herum. Sie schlief ein. Mama schickte sie ins Bett, und sie gehorchte, mit Max’ Skizzenbuch eng an ihre Brust gepresst.

Stunden später wachte sie auf und wusste die Antwort auf ihre Frage. »Natürlich«, flüsterte sie. »Ich weiß, wo er ist.« Und dann schlief sie wieder ein.

Sie träumte von dem Baum.

DIE ANZUGSAMMLUNG DES ANARCHISTEN

HIMMELSTRASSE 35, 24. DEZEMBER

In Abwesenheit zweier Väter haben die Steiners Rosa und

Trudi Hubermann und Liesel eingeladen.

Bei ihrem Eintreffen ist Rudi immer noch dabei, die Sache

mit seiner Kleidung zu erklären. Er schaut Liesel an, und

sein Mund weitet sich, aber nur ein bisschen.

Die Tage, die dem Heiligabend 1942 vorausgingen, waren dicht und schwer von Schnee. Liesel las Die Worteschüttlerin viele Male und betrachtete die Skizzen und Kommentare am Rand. An Heiligabend fällte sie eine Entscheidung, was Rudi betraf. Was machte es schon aus, wenn sie ein wenig zu spät kam?

Sie ging kurz vor Einbruch der Dunkelheit nach nebenan und erklärte ihm, dass sie ein Weihnachtsgeschenk für ihn habe.

Rudi schaute auf ihre Hände und dann rechts und links von ihren Füßen. »Na, und wo ist es?«

»Ach, vergiss es einfach.«

Aber Rudi wusste Bescheid. Er hatte sie schon früher so erlebt. Risikofreudige Augen und klebrige Finger. Der Hauch des Stehlens hing an ihren Schultern, und er konnte ihn förmlich riechen. »Dieses Geschenk«, sagte er langsam, »das hast du noch nicht, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und du wirst es auch nicht kaufen.«

»Natürlich nicht. Glaubst du vielleicht, ich habe Geld?« Der Schnee fiel immer noch. An der Rasenkante lag er wie zersplittertes Glas. »Hast du den Schlüssel?«, fragte sie.

»Den Schlüssel wofür?« Aber es dauerte nicht lange, bis Rudi begriffen hatte. Er ging ins Haus und kam kurz darauf wieder. Mit den Worten von Viktor Chemmel gesprochen: »Es ist Zeit, einkaufen zu gehen.«

Das Licht schwand schnell, und bis auf die Kirche waren alle Geschäfte und Häuser in der Münchener Straße geschlossen. Liesel musste sich beeilen, um mit den langen Schritten ihres Nebenmannes mitzuhalten. Sie kamen an das Schaufenster. »Steiner – Schneidermeister«. Auf der Glasscheibe lag eine dünne Schicht aus Staub und Ruß, die sich dort in den letzten Wochen angesammelt hatte. Auf der anderen Seite standen die Schaufensterpuppen wie Zeugen bei einer Gegenüberstellung. Sie waren ernst und lächerlich elegant. Das Gefühl, von ihnen beobachtet zu werden, war schwer abzuschütteln.

Rudi griff in seine Tasche.

Es war Heiligabend.

Sein Vater war irgendwo in der Nähe von Wien.

Rudi glaubte nicht, dass es ihm etwas ausmachen würde, wenn er und Liesel seinen geliebten Laden betraten. Der Umstände halber.

Die Tür öffnete sich widerstandslos, und sie gingen hinein. Rudis erster Gedanke war, das Licht einzuschalten, aber der Strom war abgestellt worden.

»Gibt’s hier irgendwo Kerzen?«

Rudi war verärgert. »Immerhin habe ich den Schlüssel mitgebracht. Außerdem war das Ganze deine Idee.«

Inmitten des Wortwechsels stolperte Liesel über eine Bodenwelle und fiel. Eine Schaufensterpuppe folgte ihr nach. Sie packte Liesel am Arm und entlud die Last ihrer Kleidung auf dem Mädchen. »Schaff das Ding von mir weg!« Die Puppe war in vier Teile zerbrochen. Der Rumpf mit dem Kopf, die Beine und beide Arme. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, stand Liesel da und keuchte. »Jesus, Maria.«