»Ja, Mama.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« Mamas Augen waren wie blassblaue Flecken, die jemand ausgeschnitten und auf ihr Gesicht geklebt hatte.
Sie gingen weiter.
Liesel trug den Sack.
Zu Hause wurde der Inhalt in einem Waschkessel neben dem Ofen gewaschen, vor dem Kamin im Wohnzimmer aufgehängt und dann in der Küche gebügelt. In der Küche, da fand das Leben statt.
»Hast du das gehört?«, fragte Mama sie fast jeden Abend. Sie hielt das Bügeleisen, heiß vom Ofen, in der Hand. Das Licht im Haus war dämmrig, und Liesel starrte vom Küchentisch aus in die Lücken aus Flammen vor ihr.
»Was?«, fragte sie. »Was denn?«
»Das war diese Holzinger.« Mama stand kerzengerade da. »Dieses Saumensch hat gerade wieder gegen unsere Tür gespuckt.«
Frau Holzinger war ihre Nachbarin, und sie hatte die Angewohnheit, jedes Mal die Tür der Hubermanns anzuspucken, wenn sie vorüberging. Die Haustür war ein paar Meter vom Tor entfernt, aber Frau Holzinger meisterte diese Distanz mit verblüffender Treffsicherheit.
Das Spucken hatte seinen Ursprung in einem jahrzehntealten Krieg, den sie und Rosa Hubermann mit Worten ausfochten. Keiner wusste, was der Grund für die Feindseligkeiten war. Wahrscheinlich hatten es die beiden Frauen selbst längst vergessen.
Frau Holzinger war eine drahtige Frau und ganz offensichtlich voller Bosheit. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte aber zwei Söhne, die ein paar Jahre älter waren als die Kinder der Hubermanns. Beide Söhne waren in der Armee, und beide – das kann ich euch versichern – werden noch eine Rolle spielen, bevor alles vorbei ist, wenn auch eine kleine.
Frau Holzinger war nicht nur boshaft, sondern auch sehr gründlich. Sie versäumte es nie, gegen die Tür von Nummer 33 zu spucken und »Schweine!« zu sagen, wenn sie vorbeiging. Das ist im Übrigen etwas, was mir bei den Deutschen aufgefallen ist:
Sie scheinen Schweine sehr zu mögen.
Wer, glaubt ihr, musste jeden Abend die Spucke wieder von
der Tür abwischen?
Richtig – ihr habt es erraten.
Wenn eine Frau mit einer Eisenfaust befiehlt, man solle hinausgehen und die Spucke abwischen, dann tut man es. Besonders, wenn das Eisen heiß ist.
Aber das war alles schon zur Gewohnheit geworden.
Jeden Abend ging Liesel nach draußen, wischte die Tür sauber und schaute in den Himmel. Normalerweise sah er aus wie verschüttet – kalt und schwer, glitschig und grau. Aber manchmal fassten sich ein paar Sterne ein Herz, erhoben sich und schwebten, wenn auch nur für wenige Minuten. In diesen Nächten blieb sie ein bisschen länger draußen und wartete.
»Hallo, Sterne.«
Wartete.
Auf die Stimme aus der Küche.
Oder bis die Sterne wieder hinabgezogen wurden in das trübe Wasser des Himmels über Deutschland.
DER KUSS (Eine Kindheitsentscheidung)
Wie in den meisten Kleinstädten gab es auch in Molching eine Handvoll Originale, von denen einige in der Himmelstraße lebten. Frau Holzinger war nur ein Exemplar davon.
Es waren ebenfalls dazuzuzählen:
• Rudi Steiner, der Nachbarsjunge, der von dem schwarzen amerikanischen Leichtathleten Jesse Owens besessen war
• Frau Lindner, die Ladenbesitzerin, eine überzeugte Verfechterin von Hitlers Rassenideologie
• Tommi Müller, ein Junge, dessen zahlreiche Ohrenentzündungen ihm schon etliche Operationen, einen rosigen Strom aus beständigem Schmerz im Gesicht und ein nervöses Zucken beschert hatten
• ein Mann, der allgemein als »Pfiffikus« bekannt war und dessen vulgäre Art Rosa Hubermann wie eine Dichterin und Heilige wirken ließ
Insgesamt lebten in der Himmelstraße ziemlich arme Leute, trotz des augenscheinlichen Wirtschaftswachstums, zu dem Hitler Deutschland verholfen hatte. Armenviertel gab es dennoch fast überall.
Wie bereits erwähnt, war das Haus neben den Hubermanns an eine Familie namens Steiner vermietet. Die Steiners hatten sechs Kinder. Eines von ihnen, der berüchtigte Rudi, sollte bald Liesels bester Freund werden und später ihr Partner und gelegentlicher Anstifter zu ihren Verbrechen. Sie lernte ihn auf der Straße kennen.
Ein paar Tage nach Liesels erstem Bad erlaubte ihr Mama, nach draußen zu gehen, um mit den anderen Kindern zu spielen. In der Himmelstraße wurden Freundschaften im Freien geschlossen, egal bei welchem Wetter. Die Kinder besuchten einander nur selten zu Hause, denn dort war es beengt, und außerdem gab es nicht viel zu sehen. Darüber hinaus konnten sie ihrer Lieblingsbeschäftigung am besten auf der Straße nachgehen: Fußball, ganz wie die Profis. Mannschaften wurden gebildet. Mülltonnen stellten die Torpfosten dar.
Als Neue in der Stadt wurde Liesel sofort zwischen zwei dieser Tonnen gestellt. (Tommi Müller, der erbärmlichste Fußballspieler, den die Himmelstraße je erlebt hatte, war endlich von dieser ungeliebten Pflicht befreit.)
Alles ging gut – für eine Weile, bis zu jenem schicksalhaften Moment, als Rudi Steiner von einem völlig frustrierten Tommi Müller gefoult wurde und im Schnee landete.
»Was?«, schrie Tommi. Sein Gesicht zuckte vor Verzweiflung. »Was soll ich denn jetzt schon wieder gemacht haben?«
Alle in Rudis Mannschaft verlangten nach einem Strafstoß, und jetzt hieß es Rudi Steiner gegen Liesel Meminger, die Neue.
Er platzierte den Ball auf einem matschigen Schneekegel, selbstbewusst und siegessicher. Immerhin hatte Rudi jeden seiner letzten achtzehn Elfmeter versenkt, selbst als die gegnerische Mannschaft den Torwart Tommi Müller gegen einen anderen Spieler ausgewechselt hatte. Egal wer im Tor stand, Rudi würde treffen.
Ihre Mannschaft versuchte, Liesel aus dem Tor zu holen. Wie ihr euch vorstellen könnt, wollte sie sich das nicht gefallen lassen. Rudi pflichtete ihr bei.
»Nein, nein.« Er lächelte. »Lasst sie ruhig drin.« Er rieb sich die Hände.
Es hatte aufgehört zu schneien, und zwischen ihnen hatten sich braune Fußabdrücke angesammelt. Rudi lief an, schoss, und Liesel tauchte seitwärts und wehrte den Ball irgendwie mit ihrem Ellbogen ab. Grinsend stand sie auf, aber das Erste, was sie sah, war ein Schneeball, der ihr ins Gesicht flog. Er bestand nur zur Hälfte aus Schnee, die andere Hälfte war Schlamm. Er brannte wie verrückt.
»Wie gefällt dir das?« Der Junge grinste und rannte dann dem Ball hinterher.
»Saukerl«, flüsterte Liesel. Sie gewöhnte sich schnell an den Umgangston in ihrem neuen Zuhause.
Er war acht Monate älter als Liesel, hatte dürre Beine,
spitze Zähne, listige blaue Augen, und seine Haare hatten
die Farbe von Zitronen.
Als eines von sechs Steiner-Kindern war er immer hungrig.