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»Ist es gut?«

»Nicht schlecht.«

Liesel verspürte den Drang zu gehen und gleichzeitig eine seltsame Verpflichtung zu bleiben. Sie setzte an, etwas zu sagen, aber da waren zu viele Worte, und sie kamen zu schnell. Sie machte mehrmals den Versuch, sie zu fassen, aber dann war es die Bürgermeistergattin, die die Initiative ergriff.

Sie sah Rudis Gesicht im Fenster, oder vielmehr sein gelbes Haar. »Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen«, sagte sie. »Er wartet auf dich.«

Auf dem Heimweg aßen sie.

»Bist du sicher, dass da sonst nichts war?«, fragte Rudi. »Bestimmt stand da noch was anderes.«

»Sei froh, dass du die Plätzchen bekommen hast.« Liesel betrachtete die Gabe in Rudis Händen. »Jetzt sei ehrlich: Hast du welche gegessen, bevor ich rauskam?«

Rudi war zutiefst gekränkt. »He, du bist der Dieb hier, nicht ich!«

»Lüg mich nicht an, Saukerl. Du hast noch Puderzucker am Mundwinkel.«

Verdattert nahm Rudi den Teller in eine Hand und wischte sich mit der anderen über den Mund. »Ich hab keine gegessen, ich schwör’s.«

Die Hälfte der Plätzchen war verspeist, ehe sie die Brücke erreichten, und den Rest teilten sie mit Tommi Müller in der Himmelstraße.

Erst als sie fertig waren, fiel ihnen etwas ein. Rudi sprach es aus.

»Was zum Kuckuck sollen wir jetzt mit dem Teller machen?«

DER KARTENSPIELER

Zu der Zeit, als Liesel und Rudi die Plätzchen aßen, spielten die Männer der LSE, die keinen Dienst hatten, Karten in einer Stadt in der Nähe von Essen. Sie hatten gerade eine lange Fahrt von Stuttgart bis hierher hinter sich gebracht und spielten um Zigaretten. Reinhold Zucker war stinksauer.

»Er schummelt, ich schwöre es«, murmelte er. Sie hockten in einem Verschlag, der ihnen als Baracke diente, und Hans Hubermann hatte gerade zum dritten Mal gewonnen. Zucker warf seine Karten wütend auf den Tisch und kämmte sich mit drei dreckigen Fingernägeln durch das fettige Haar.

EINIGE TATSACHEN ÜBER REINHOLD ZUCKER

Er war vierundzwanzig Jahre alt. Wenn er ein Kartenspiel

gewann, glühte er geradezu – er hielt sich die dünnen

Tabakstangen an die Nase und atmete ihr Aroma ein.

»Der Geruch des Sieges«, sagte er schadenfroh.

Oh, und noch etwas.

Er würde mit offenem Mund sterben.

Anders als der junge Mann links von ihm machte Hans Hubermann kein Aufhebens, wenn er gewann. Er war sogar so großzügig und gab jedem seiner Kameraden eine Zigarette wieder und zündete sie für sie an. Alle außer Reinhold Zucker nahmen das Geschenk entgegen. Er für seinen Teil schnappte sich die angebotene Zigarette und warf sie wieder auf die umgedrehte Kiste, die ihnen als Tisch diente. »Ich will keine Almosen von dir, alter Mann.« Dann stand er auf und ging.

»Was ist los mit ihm?«, fragte der Unteroffizier, aber niemand machte sich die Mühe zu antworten. Reinhold Zucker war bloß ein vierundzwanzigjähriger Junge, der furchtbar schlecht Karten spielte.

Wenn er nicht seine Zigaretten an Hans Hubermann verloren hätte, hätte er ihn nicht verabscheut. Wenn er ihn nicht verabscheut hätte, hätte er sich vielleicht nicht ein paar Wochen später auf seinen Platz gesetzt, als sie auf einer scheinbar harmlosen Straße unterwegs waren.

Ein Sitzplatz, zwei Männer, ein kurzer Streit und ich.

Es bringt mich schier um, wie manche Menschen sterben.

DER SCHNEE VON STALINGRAD

An einem Tag Mitte Januar 1943 lag der Korridor der Himmelstraße düster und traurig da. Liesel schloss das Tor hinter sich und ging zu Frau Holzingers Tür. Sie klopfte. Als geöffnet wurde, schaute sie überrascht hoch.

Ihr erster Gedanke war, dass der Mann vor ihr einer von Frau Holzingers Söhnen sein musste, aber er sah keinem der Brüder auf dem gerahmten Bild neben der Tür ähnlich. Er kam ihr viel zu alt vor, obwohl sie sein Alter nicht schätzen konnte. Sein Gesicht war fleckig von Bartstoppeln, und seine Augen schauten sie schmerzhaft und laut an. Eine verbundene Hand fiel aus seinem Mantelärmel, und Kirschen aus Blut kullerten durch die Bandage. »Du kommst besser nachher wieder.«

Liesel versuchte, an ihm vorbeizuschauen. Sie wollte nach Frau Holzinger rufen, aber der Mann verstellte ihr den Weg.

»Kind«, sagte er, »komm nachher wieder. Ich hole dich ab. Wo wohnst du?«

Mehr als drei Stunden später klopfte es an die Tür von Nummer 33, und vor ihr stand der Mann. Die Kirschen aus Blut waren zu Pflaumen geworden.

»Sie erwartet dich jetzt.«

Draußen im diesigen grauen Licht konnte sich Liesel nicht beherrschen. Sie fragte, was mit seiner Hand passiert war. Er blies etwas Luft aus seinen Nasenlöchern, eine einzige Silbe, und dann antwortete er: »Stalingrad.«

»Wie bitte?« Er hatte in den Wind hineingeschaut, als er das sagte. »Ich habe Sie nicht verstanden.«

Er antwortete noch einmal, lauter, und jetzt gab er ihr eine ausführliche Erklärung. »Stalingrad ist mit meiner Hand passiert. Ich bekam eine Kugel in die Rippen, und drei meiner Finger wurden abgeschossen. Beantwortet das deine Frage?« Er stopfte die gesunde Hand in die Jackentasche und zitterte vor Verachtung über den deutschen Wind. »Du glaubst wohl, hier ist es kalt, was?«

Liesel berührte die Wand neben sich. Sie konnte nicht lügen. »Ja, natürlich.«

Der Mann lachte. »Das ist keine Kälte.« Er holte eine Zigarette hervor und steckte sie sich zwischen die Lippen. Einhändig versuchte er, ein Streichholz anzuzünden. Bei diesem ekelhaften Wetter wäre es schon mit zwei Händen schwierig gewesen, mit einer jedoch war es ein hoffnungsloses Unterfangen. Er ließ die Streichholzschachtel fallen und fluchte.

Liesel hob sie auf.

Sie nahm ihm die Zigarette ab und steckte sie sich in den Mund. Aber auch sie konnte sie nicht anzünden.

»Du musst daran ziehen«, erklärte ihr der Mann. »Bei diesem Wetter kriegst du sie nur an, wenn du daran ziehst, verstehst du?«

Sie versuchte es wieder und überlegte, wie ihr Papa es immer getan hatte. Diesmal füllte sich ihr Mund mit Rauch. Er kletterte zwischen ihren Zähnen hindurch und kratzte ihre Kehle, aber sie unterdrückte ein Husten.

»Gut gemacht.« Er nahm die Zigarette, inhalierte und hielt ihr dann seine unverletzte Hand hin, die linke. »Michael Holzinger.«

»Liesel Meminger.«

»Kommst du, um meiner Mutter vorzulesen?«

In diesem Moment tauchte Rosa hinter Liesel auf, und das Mädchen spürte den Schock in ihrem Rücken. »Michael?«, fragte Rosa. »Bist du das?«

Michael Holzinger nickte. »Guten Tag, Frau Hubermann. Es ist lange her.«

»Du siehst so...«

»Alt aus?«

Rosa war immer noch erschrocken, aber sie fasste sich schnell. »Möchtest du hereinkommen? Wie ich sehe, hast du ja meine Pflegetochter schon kennengelernt...« Ihre Stimme wanderte beim Anblick der blutigen Hand davon.

»Mein Bruder ist tot«, sagte Michael Holzinger, und er hätte sie nicht heftiger treffen können, wenn er mit seiner unverletzten Hand zugeschlagen hätte. Rosa schwankte. Sicher, Krieg bedeutete Sterben, aber dennoch zog es einem immer den Boden unter den Füßen weg, wenn es jemanden traf, den man gut kannte. Rosa hatte die beiden Holzinger-Jungs aufwachsen sehen.

Der gealterte junge Mann fand die Kraft, knapp zu berichten, was geschehen war, ohne die Fassung zu verlieren. »Ich war in einem der Gebäude, die wir als Krankenhaus benutzten, als man ihn brachte. Eine Woche bevor ich nach Hause fuhr. Drei Tage lang saß ich bei ihm, bis er starb.«

»Es tut mir leid.« Die Worte schienen nicht aus Rosas Mund zu kommen. An diesem Abend stand jemand anderes hinter Liesel Meminger, aber sie wagte nicht, sich umzudrehen und nachzusehen.