»Schon besser, Liesel.«
Mit großer Traurigkeit wurde ihr klar, dass ihr Bruder auf immer und ewig sechs Jahre alt sein würde, aber als sie diesen Gedanken festhielt, unternahm sie dennoch den Versuch zu lächeln.
Sie blieb über der Amper stehen, auf der Brücke, wo Papa immer gestanden und sich ans Geländer gelehnt hatte.
Sie lächelte und lächelte, und nachdem alles draußen war, ging sie nach Hause. Niemals wieder stieg ihr Bruder in ihren Schlaf. Auf mancherlei Art vermisste sie ihn, aber seine tödlichen Augen auf dem Boden des Zuges oder den Klang des Hustens, der ihn umgebracht hatte, würde sie nie mehr wieder vermissen.
In dieser Nacht lag die Bücherdiebin im Bett, und der Junge kam nur, kurz bevor sie die Augen zumachte. Er war lediglich ein Mitglied einer ganzen Kompanie, denn Liesel bekam in ihrem Zimmer ständig Besuch. Ihr Papa stand da und sagte, dass sie fast erwachsen war. Max saß in der Ecke und schrieb Die Worteschüttlerin. Rudi stand nackt in der Tür. Gelegentlich fand sich ihre Mutter an dem Gleis neben ihrem Bett ein. Und weit entfernt, in dem Raum, der sich wie eine Brücke zu einer namenlosen Stadt erstreckte, saß ihr Bruder auf einem Friedhof und spielte im Schnee.
Als Untermalung für ihre Visionen ertönte Rosas Schnarchen aus dem Wohnzimmer. Liesel lag wach, umringt, und erinnerte sich an ein Zitat aus ihrem neuesten Buch.
Überall in den Straßen der Stadt gingen Menschen,
aber die Fremde hätte nicht einsamer sein können,
wenn sie menschenleer gewesen wären.
Am Morgen waren die Visionen verschwunden, und sie konnte die leise Rezitation von Worten im Wohnzimmer hören. Rosa saß wieder mit dem Akkordeon an der Brust da und betete.
»Lass sie gesund wiederkommen«, wiederholte sie immer wieder. »Bitte, Gott, bitte. Sie alle.« Selbst die Falten um ihre Augen schlossen sich wie Hände zum Gebet.
Höchstwahrscheinlich schmerzte sie das Akkordeon, aber sie verharrte in ihrer Position.
Rosa erzählte Hans nie von diesen frühen Morgenstunden, aber Liesel glaubte, dass es diese Gebete waren, die dafür sorgten, dass Papa den Unfall der LSE in Essen überlebte. Und wenn sie nicht halfen, dann schadeten sie zumindest nicht.
DER UNFAL
Es war ein verblüffend klarer Nachmittag, und die Männer kletterten in den Lastwagen. Hans Hubermann hatte sich gerade auf seinen üblichen Platz gesetzt. Reinhold Zucker stand vor ihm.
»Mach Platz.«
»Bitte?«
Zucker kauerte sich unter dem Himmel des Fahrzeuges zusammen. »Ich sagte, mach Platz, Arschloch.« Der schmierige Dschungel seiner Haarsträhnen fiel in Klumpen auf seine Stirn. »Ich tausche meinen Sitz mit dir.«
Hans war verwirrt. Der hinterste Sitz war wahrscheinlich der unbequemste von allen. Es war zugig und kalt dort. »Warum?«
»Spielt das eine Rolle?« Zucker verlor die Geduld. »Vielleicht will ich als Erster raus, um aufs Scheißhaus zu kommen.«
Hans merkte schnell, dass der Rest der Einheit diesen jämmerlichen Kampf zwischen zwei angeblich erwachsenen Männern genau beobachtete. Er wollte nicht verlieren, aber er wollte auch nicht kleinlich erscheinen. Außerdem hatten sie gerade eine anstrengende Schicht hinter sich gebracht, und er hatte keine Kraft mehr für eine Auseinandersetzung. Mit gebeugtem Rücken ging er zu dem leeren Platz in der Mitte des Lastwagens.
»Warum hast du dem Scheißkopf nachgegeben?«, fragte der Mann neben ihm.
Hans zündete ein Streichholz an und ließ den Mann an seiner Zigarette ziehen. »Der Wind dahinten pfeift einem doch nur durchs Hirn.«
Der olivgrüne Laster war auf dem Weg zurück ins Lager, vielleicht noch zwölf Kilometer davon entfernt. Brunnenweg erzählte einen Witz über eine französische Kellnerin, als der linke Vorderreifen platzte und der Fahrer die Kontrolle über den Laster verlor. Das Fahrzeug überschlug sich mehrmals, und die Männer fluchten, während sie gemeinsam mit der Luft, dem Licht, dem Schmutz und dem Tabak herumgewirbelt wurden. Draußen sackte der blaue Himmel von oben nach unten, und drinnen suchten alle nach etwas, woran sie sich festhalten konnten.
Als das Drehen aufhörte, wurden alle gegen die rechte Seite des Lastwagens gepresst. Gesichter bohrten sich in die dreckige Uniform neben sich. Fragen nach der Unversehrtheit der Insassen wurden herumgereicht, bis einer von den Männern, Eddi Alma, anfing zu schreien: »Holt den Mistkerl von mir runter!« Er sagte es drei Mal, schnell hintereinander. Er starrte in die bewegungslosen Augen von Reinhold Zucker.
Sechs Männer mit Brandwunden von Zigaretten.
Zwei gebrochene Hände.
Etliche gebrochene Finger.
Ein gebrochenes Bein bei Hans Hubermann.
Ein gebrochenes Genick bei Reinhold Zucker,
etwa auf der Höhe seiner Ohrläppchen.
Sie zerrten einander ins Freie, bis nur noch die Leiche im Wagen lag.
Der Fahrer, Helmut Brohmann, saß auf der Erde und kratzte sich am Kopf. »Der Reifen«, erklärte er, »er ist einfach geplatzt.« Ein paar von den Männern setzten sich zu ihm und bescheinigten ihm einer nach dem anderen, dass es nicht seine Schuld war. Andere gingen herum und rauchten, fragten einander, ob sie glaubten, dass ihre Verletzungen schlimm genug waren, um vom Dienst befreit zu werden. Eine weitere kleine Gruppe versammelte sich hinten am Laster und betrachtete den Körper.
Am Straßenrand, unter einem Baum, öffnete sich ein Streifen ungeheuren Schmerzes in Hans Hubermanns Bein. »Es hätte mich treffen sollen«, sagte er.
»Was?«, rief der Unteroffizier vom Laster aus.
»Er saß auf meinem Platz.«
Helmut Brohmann fand seine Sinne wieder und kletterte zurück in die Fahrerkabine. Auf der Seite liegend, versuchte er, den Motor zu starten, aber da ließ sich nichts machen. Man funkte einen weiteren Laster herbei, genauso wie einen Krankenwagen. Der Krankenwagen kam nicht.
»Ihr wisst, was das heißt, nicht wahr?«, sagte Boris Schipper. Sie wussten es.
Sie setzten ihren Weg zurück ins Lager fort. Alle Männer versuchten, den Blick auf Reinhold Zuckers offenmündiges Grinsen zu vermeiden. »Ich sage euch, wir hätten ihn mit dem Gesicht nach unten legen sollen«, erklärte jemand. Ein paar Mal wanderten die Gedanken des einen oder anderen einfach ab, und derjenige legte seine Füße auf die Leiche. Als sie ankamen, wollte sich jeder vor dem Ausladen des Körpers drücken. Nachdem es vollbracht war, machte Hans Hubermann ein paar kurze Schritte, dann zerbrach der Schmerz sein Bein, und er fiel in sich zusammen.
Eine Stunde später wurde er von einem Arzt untersucht, der ihm bescheinigte, dass das Bein gebrochen war. Der Unteroffizier stand mit einem schiefen Grinsen daneben.
»Tja, Hubermann, sieht so aus, als ob Sie davonkämen, was?« Er schüttelte sein rundes Gesicht, rauchte und machte eine Liste von allem, was nun geschehen würde. »Sie ruhen sich aus. Man wird mich fragen, was wir mit Ihnen machen sollen. Ich werde sagen, dass Sie großartige Arbeit geleistet haben.« Er blies Rauch aus. »Ich glaube, ich werde sagen, dass Sie nicht mehr kräftig genug sind, um in der LSE zu arbeiten, und dass man Sie nach München zurückschicken soll, wo Sie in einem Büro arbeiten oder sich mit irgendwelchen Aufräumarbeiten beschäftigen können. Wie klingt das?«
Hans konnte inmitten einer Grimasse aus Schmerz ein Lachen nicht unterdrücken. »Das klingt gut, Herr Unteroffizier.«
Boris Schipper drückte seine Zigarette aus. »Verdammt richtig, das klingt gut. Sie haben Glück, dass ich Sie mag, Hubermann. Sie haben Glück, dass Sie ein guter Mann sind und spendabel im Umgang mit Ihren Zigaretten.«