Nebenan bereitete man den Gips vor.
DER BITTERE GESCHMACK VON FRAGEN
Etwas mehr als eine Woche nach Liesels Geburtstag, Mitte Februar, erhielten sie und Rosa endlich einen ausführlichen Brief von Hans Hubermann. Liesel rannte vom Briefkasten ins Haus und zeigte ihn Mama. Rosa bat sie, ihn laut vorzulesen, und sie konnten ihre Aufregung nicht unterdrücken, als Liesel von dem gebrochenen Bein berichtete. Der nächste Satz jedoch verblüffte sie so sehr, dass sie die Worte nur lautlos mit den Lippen formte.
»Was ist los?«, drängte Rosa. »Saumensch?«
Liesel schaute von dem Brief auf und hätte am liebsten laut geschrien. Der Unteroffizier hatte Wort gehalten. »Er kommt heim, Mama. Papa kommt heim!«
Sie umarmten sich in der Küche, und der Brief wurde zwischen ihren Körpern zerdrückt. Ein gebrochenes Bein war wirklich ein Grund zum Feiern.
Nebenan wurde die Neuigkeit begeistert aufgenommen. Barbara Steiner rieb Liesel die Arme und rief nach dem Rest der Familie. In der Küche der Steiners schienen alle über Hans Hubermanns bevorstehende Heimkehr wie aus dem Häuschen zu sein. Rudi lächelte und lachte, und Liesel merkte, dass er sich alle Mühe gab. Aber sie spürte auch den bitteren Geschmack von Fragen in seinem Mund.
Warum er?
Warum Hans Hubermann und nicht Alex Steiner?
Die Fragen waren berechtigt.
EIN WERKZEUGKASTEN, EIN BLUTER, EIN BÄR
Seit sein Vater letzten Oktober in die Wehrmacht eingezogen worden war, war Rudis Ärger stetig gewachsen. Die Nachricht, dass Hans Hubermann heimkehrte, war alles, was er brauchte, um einen Schritt weiterzugehen. Er sagte Liesel nichts davon. Er beklagte sich bei ihr nicht über die Ungerechtigkeit. Er entschied sich zu handeln.
In der diebischen Zeit eines dunklen Nachmittags trug er einen Kasten aus Metall durch die Himmelstraße.
Er war fleckig rot und etwa so lang wie ein übergroßer
Schuhkarton. Darin befanden sich:
1 verrostetes Taschenmesser 1 kleine Taschenlampe
2 Hämmer (1 × klein, 1 × mittelgroß)
1 Handtuch
3 Schraubendreher (von unterschiedlicher Größe)
1 Skimaske
1 P1 Teddybär
Liesel sah ihn durch das Küchenfenster. Sie bemerkte seinen zielstrebigen Gang und das entschlossene Gesicht, ganz wie an dem Tag, an dem er losgezogen war, um seinen Vater zu suchen. Er packte den Griff des Werkzeugkastens mit so viel Kraft, wie er aufbringen konnte, und seine Bewegungen waren steif vor Zorn.
Die Bücherdiebin ließ das Handtuch fallen, das sie gerade noch festgehalten hatte, und ersetzte es durch einen einzigen Gedanken.
Er geht stehlen.
In Windeseile war sie draußen.
Sie verschwendeten keine Zeit mit Begrüßungen.
Rudi ging einfach weiter und redete mit der kalten Luft vor seinem Mund. In der Nähe des Mietshauses, in dem Tommi Müller wohnte, sagte er: »Weißt du was, Liesel? Ich habe nachgedacht. Du bist gar kein Dieb.« Er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Die Frau lässt dich herein. Sie stellt dir sogar Plätzchen hin, Himmel nochmal. Das kann man doch wohl kaum Stehlen nennen. Stehlen, das ist, was die Wehrmacht tut. Nimm zum Beispiel deinen Vater, und meinen.« Er trat gegen einen Stein, der metallisch klingend gegen ein Tor prallte. Rudi ging schneller. »All diese reichen Nazis da oben, in der Großen Straße, in der Gelbstraße, in der Heidestraße.«
Liesel brachte all ihre Konzentration auf, um mit ihm Schritt zu halten. Sie hatten Frau Lindners Eckladen schon hinter sich gelassen und waren in der Münchener Straße. »Rudi...«
»Was ist das überhaupt für ein Gefühl?«
»Was meinst du?«
»Wenn du eines von den Büchern nimmst?«
In diesem Moment schwieg sie. Wenn er eine Antwort wollte, musste er hartnäckiger sein. Er war es. »Na?« Aber noch bevor Liesel überhaupt den Mund aufmachen konnte, antwortete Rudi selbst: »Es ist ein gutes Gefühl, nicht wahr? Etwas zu stehlen, was einem eigentlich gehört.«
Liesel zwang ihre Aufmerksamkeit auf den Werkzeugkasten, und sie versuchte, ihn zu bremsen. »Was hast du da drin?«
Er beugte sich vor und öffnete den Kasten.
Alle Gegenstände ergaben einen Sinn, bis auf den Teddybären.
Während sie weitergingen, erklärte Rudi, was er mit den Gegenständen im Werkzeugkasten tun wollte. Die Hämmer zum Beispiel dienten zum Einschlagen von Fenstern. Das Handtuch wickelte man vorher darum, damit der Lärm gedämpft wurde.
»Und der Teddybär?«
Er gehörte Anna-Marie Steiner und war nicht größer als eines von Liesels Büchern. Der Pelz war zottelig und abgeschabt. Die Augen und Ohren waren mehrmals neu angenäht worden, aber er schaute dennoch freundlich drein.
»Das«, so verkündete Rudi, »ist mein Geniestreich. Wenn ein Kind reinkommt, während ich im Haus bin, kann ich ihm den Teddy geben, um es zu beruhigen.«
»Und was willst du stehlen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Geld, Lebensmittel, Schmuck. Alles, was ich kriegen kann.« Es hörte sich ganz einfach an.
Erst fünfzehn Minuten später, als Liesel die plötzliche Stille in seinem Gesicht bemerkte, begriff sie, dass Rudi Steiner überhaupt nichts stehlen würde. Die Entschlossenheit war verschwunden, und obwohl er sich nach wie vor im Glorienschein seines Vorhabens sonnte, erkannte sie, dass er nicht mehr daran glaubte. Er versuchte zu glauben, und das ist immer ein schlechtes Zeichen. Seine verbrecherische Grandeur zerfiel vor ihren Augen. Ihre Schritte verlangsamten sich, und sie betrachteten die Häuser. Liesels Erleichterung saß rein und traurig in ihrem Herzen.
Sie waren in der Gelbstraße.
Überall ragten die Häuser dunkel und groß empor.
Rudi zog die Schuhe aus und hielt sie in der linken Hand. In der Rechten hatte er den Werkzeugkasten.
Zwischen den Wolken stand der Mond. Man konnte kilometerweit sehen.
»Worauf warte ich noch?«, fragte er. Liesel erwiderte nichts. Wieder öffnete Rudi den Mund, aber es kamen keine Worte. Er stellte den Werkzeugkasten auf den Boden und setzte sich darauf.
Seine Socken wurden kalt und nass.
»Wie gut, dass du noch ein Paar im Werkzeugkasten hast«, bemerkte Liesel. Sie sah, dass er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Trotz allem.
Rudi rutschte etwas zur Seite und wandte sich von ihr ab. Jetzt war auch für Liesel Platz auf dem Werkzeugkasten.
Die Bücherdiebin und ihr bester Freund saßen Rücken an Rücken auf einem fleckig roten Werkzeugkasten mitten auf der Straße. Jeder schaute in die entgegengesetzte Richtung, und eine Zeit lang schwiegen sie. Dann standen sie auf, Rudi wechselte seine Socken, und sie machten sich auf den Heimweg. Rudi ließ die nassen, kalten Socken auf der Straße liegen. Als Geschenk, entschied er, für die Gelbstraße.
»Ich glaube, ich kann besser Dinge zurücklassen
als sie stehlen.«
Ein paar Wochen später erwies sich der Werkzeugkasten doch noch als nützlich. Rudi räumte die Schraubendreher und Hämmer heraus und bestückte den Kasten mit so vielen Wertsachen der Steiners, wie hineingingen, für den Fall eines Luftangriffs. Der einzige Gegenstand, der drin blieb, war der Teddybär.