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Am 9. März verließ Rudi das Haus mit dem Werkzeugkasten. Die Sirenen stürzten sich wieder einmal auf Molching.

Während die Steiners durch die Himmelstraße eilten, hämmerte Michael Holzinger heftig an Rosa Hubermanns Tür. Rosa und Liesel kamen heraus, und Michael Holzinger erklärte ihnen sein Problem. »Meine Mutter«, sagte er. Immer noch waren Pflaumen aus Blut in seinem Verband. »Sie will nicht rauskommen. Sie sitzt in der Küche am Tisch.«

Obwohl bereits Wochen vergangen waren, hatte Frau Holzinger noch nicht einmal begonnen, sich zu erholen. Jedes Mal, wenn Liesel zum Vorlesen kam, starrte die Frau die meiste Zeit aus dem Fenster. Ihre Worte waren leise, fast bewegungslos. Alle Grobheit und Verkniffenheit war ihr aus dem Gesicht geschabt worden. Es war meistens Michael, der Liesel verabschiedete oder ihr den Kaffee gab und ihr dankte. Und jetzt das.

Rosa verlor keine Zeit.

Eilig watschelte sie durch das Tor und stellte sich in den Türrahmen. »Holzinger!« Kein Laut, außer den Sirenen und Rosa. »Holzinger, scher dich hier raus, du dämliche alte Kuh!« Takt war noch nie Rosas Stärke gewesen. »Wenn du nicht rauskommst, dann bleiben wir hier stehen und krepieren auf offener Straße!« Sie drehte sich um und betrachtete die hilflosen Gestalten auf dem Bürgersteig. Die Sirene war gerade verstummt. »Was jetzt?«

Michael zuckte mit den Schultern, orientierungslos, ratlos. Liesel setzte ihre Büchertasche ab und schaute ihn an. Sie musste schreien, um sich verständlich zu machen, weil genau in diesem Moment die nächste Sirene einsetzte. »Kann ich reingehen?« Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. Sie rannte den kurzen Weg entlang und schob sich an Mama vorbei.

Frau Holzinger saß ungerührt am Tisch.

Was soll ich sagen?, dachte Liesel.

Wie kriege ich sie dazu mitzukommen?

Die Sirenen holten wieder Atem, und sie hörte, wie Rosa nach ihr rief. »Lass sie einfach sitzen, Liesel, wir müssen gehen! Wenn sie sterben will, ist das ihre Sache.« Doch dann stießen die Sirenen wieder geräuschvoll die Luft aus. Sie stürzten nieder und begruben die Stimme unter sich.

Jetzt blieben nur noch der Lärm, das Mädchen und die drahtige Frau.

»Frau Holzinger, bitte!«

Wie an dem Tag, als sie Ilsa Hermann gegenübergestanden hatte, während draußen Rudi mit dem Teller voller Plätzchen auf sie wartete, lag ihr auch nun eine Vielzahl von Worten und Sätzen auf der Zunge. Der Unterschied war, dass heute auch noch Bomben zugegen waren. Heute war die Sache etwas dringender.

DIE MÖGLICHKEITEN

»Frau Holzinger, wir müssen gehen.«

»Frau Holzinger, wir werden sterben, wenn wir

hierbleiben.«

»Sie haben doch noch einen Sohn.«

»Alle warten auf Sie.«

»Die Bomben werden Sie in Stücke reißen.«

»Wenn Sie nicht mitkommen, komme ich nicht mehr zum

Vorlesen, und dann haben Sie den einzigen Freund verloren,

den Sie noch hatten.«

Sie riskierte es mit dem letzten Satz und schrie die Worte direkt in die Sirenen hinein. Ihre Hände lagen auf dem Tisch.

Die Frau schaute auf und traf ihre Entscheidung. Sie rührte sich nicht.

Liesel ging. Sie löste sich vom Tisch und hastete aus dem Haus.

Rosa hielt ihr das Tor auf. Michael Holzinger war auf der Himmelstraße gestrandet.

»Komm mit!«, drängte ihn Rosa, aber der heimgekehrte Soldat zögerte. Er wollte gerade wieder hineingehen, als irgendetwas ihn dazu veranlasste, sich umzudrehen. Seine verstümmelte Hand war alles, was noch mit dem Tor in Verbindung blieb. Voller Scham zog er sie an sich und folgte Rosa und Liesel, die auf Haus Nummer 45 zurannten.

Alle drei schauten sich mehrmals um, aber da war keine Frau Holzinger.

Die Straße kam ihnen so breit vor, so endlos lang. Erst als die letzte Sirene sich in Luft auflöste, stolperten die drei in den Keller der Fiedlers.

»Wo wart ihr denn so lange?«, wollte Rudi wissen. Er hatte den Werkzeugkasten in der Hand.

Liesel stellte ihre Büchertasche ab und setzte sich darauf. »Wir wollten noch Frau Holzinger holen.«

Rudi schaute sich um. »Und? Wo ist sie?«

»Zu Hause. In ihrer Küche.«

Im hintersten Winkel des Kellers stand Michael, verkrampft und zitternd. »Ich hätte bei ihr bleiben sollen«, sagte er, »ich hätte bei ihr bleiben sollen, ich hätte bei ihr bleiben sollen...« Seine Stimme war fast lautlos, aber seine Augen schrien förmlich. Wild schlugen sie in ihren Höhlen, während er seine verletzte Hand drückte und eine Blutrose auf dem Verband erblühte.

Rosa versuchte, ihn zu beruhigen.

»Bitte, Michael, es ist nicht deine Schuld.«

Aber der junge Mann mit den wenigen verbliebenen Fingern an seiner rechten Hand war untröstlich. Er kroch in Rosas Augen.

»Können Sie mir erklären«, sagte er, »denn ich verstehe es nicht...« Er fiel zurück und kauerte sich hin, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. »Sagen Sie mir, Rosa, wieso sie da sitzen kann, bereit zu sterben, wenn ich doch immer noch leben will.« Das Blut verdickte sich. »Warum will ich leben? Ich sollte es nicht wollen, aber ich tue es.«

Minutenlang weinte der junge Mann unbeherrscht, während Rosas Hand auf seiner Schulter lag. Die Menschen im Keller schauten zu. Er konnte nicht aufhören zu weinen, auch nicht, als sich die Kellertür öffnete und schloss und Frau Holzinger eintrat.

Ihr Sohn schaute auf.

Rosa trat zur Seite.

Als sie einander fanden, entschuldigte sich Michael. »Mama, es tut mir leid, ich hätte bei dir bleiben sollen.«

Frau Holzinger hörte ihn nicht. Sie saß nur neben ihrem Sohn und hob seine bandagierte Hand an. »Du blutest wieder«, sagte sie. Dann saßen sie da, wie alle anderen auch, und warteten.

Liesel griff in ihre Tasche und kramte durch die Bücher.

DAS BOMBARDEMENT VON MÜNCHEN AM 9. UND 10. MÄRZ

Die Nacht wurde lang, angefüllt mit Bomben und Vorlesen.

Ihr Mund war trocken, aber die Bücherdiebin schaffte

vierundfünfzig Seiten.

Die meisten Kinder schliefen fest und hörten nicht die Sirenen, die erneut Sicherheit verkündeten. Ihre Eltern weckten sie oder trugen sie die Kellertreppe hinauf in eine Welt aus Dunkelheit.

Weit entfernt brannte es, und ich hatte gerade über zweihundert ermordete Seelen aufgelesen.

Ich war auf dem Weg nach Molching, um eine weitere zu holen.

Die Luft über der Himmelstraße war rein.

Die Sirenen hatten etliche Stunden lang abgewartet, für den Fall, dass eine neuerliche Bedrohung auftauchte, und der Rauch hatte sich in die Atmosphäre verzogen.

Es war Bettina Steiner, die das kleine Feuer und den Streifen Rauch bemerkte, weiter unten, in der Nähe der Amper. Er zog in den Himmel, und das Mädchen hob den Finger. »Schaut mal.«

Das Mädchen hatte es zuerst bemerkt, aber es war Rudi, der handelte. In seiner Hast vergaß er, den Werkzeugkasten abzustellen. Er sprintete zum Fuß der Himmelstraße, sauste durch ein paar Seitenstraßen und trat dann in den Wald. Liesel folgte ihm auf dem Fuße (nachdem sie ihre Bücher bei der heftig protestierenden Rosa abgeladen hatte), und dann kamen vereinzelte Leute aus verschiedenen Luftschutzkellern.

»Rudi, warte!«

Rudi wartete nicht.

Liesel konnte lediglich den Werkzeugkasten zwischen den Bäumen erkennen, während er dem ersterbenden Glühen und dem umnebelten Flugzeug entgegenrannte. Es hockte rauchend auf einer Lichtung neben dem Fluss. Der Pilot hatte versucht, dort zu landen.