Выбрать главу

Zwanzig Meter vor dem Flugzeug blieb Rudi stehen.

Wir kamen beide beinahe gleichzeitig dort an, und ich bemerkte ihn, wie er da stand und nach Luft schnappte.

Die Glieder der Bäume lagen im Dunkeln verstreut.

Um das Flugzeug herum waren Zweige und Nadeln aufgehäuft, wie Brennstoff. Zu seiner Linken hatten sich drei Kerben in die Erde gebrannt. Das langsamer werdende Ticken erkaltenden Metalls jagte die Minuten und Sekunden, bis es Rudi und Liesel so vorkam, als würden sie schon seit Stunden dastehen. Die wachsende Menge versammelte sich hinter ihnen. Ihr Atem und ihre Sätze klebten an Liesels Rücken.

»Na?«, sagte Rudi. »Wollen wir mal nachschauen?«

Er ging durch die Reste der Bäume dorthin, wo der Rumpf des Flugzeuges in den Boden gegraben war. Die Nase lag im fließenden Wasser, und die Flügel waren nach hinten abgeknickt.

Rudi umkreiste das Flugzeug langsam, vom Heck aus rechts herum.

»Da ist überall Glas«, sagte er. »Wahrscheinlich von der Windschutzscheibe.«

Und dann sahen sie den Körper.

Rudi Steiner hatte noch nie ein so bleiches Gesicht gesehen.

»Komm nicht her, Liesel.« Aber Liesel kam doch.

Sie konnte das fast bewusstlose Gesicht des feindlichen Piloten sehen. Die hohen Bäume schauten, und der Fluss strömte dahin. Das Flugzeug gab gelegentlich ein Husten von sich, und der Kopf im Innern rollte von links nach rechts. Er sagte etwas, was sie selbstverständlich nicht verstanden.

»Jesus, Maria und Josef«, flüsterte Rudi. »Er lebt.«

Der Werkzeugkasten schlug rumpelnd gegen die Flanke des Flugzeugs und zog den Klang von weiteren menschlichen Stimmen und Schritten nach sich.

Der Feuerschein war nun vergangen, und der Morgen war still und schwarz. Nur der Rauch stellte sich ihm in den Weg, aber auch der würde schon bald erschöpft sein.

Die Wand aus Bäumen verstellte den Blick auf das brennende München. Mittlerweile hatten sich die Augen des Jungen nicht nur an die Dunkelheit gewöhnt, sondern auch an das Gesicht des Piloten. Die Augen waren wie Kaffeeflecke, und Schnittwunden überzogen seine Wangen und sein Kinn. Der gekräuselte Stoff seiner Uniform lag unordentlich auf seiner Brust.

Trotz Rudis Warnung kam Liesel noch näher, und ich sage euch, dass wir einander in genau diesem Moment erkannten.

Ich weiß, wer du bist, dachte ich.

Es waren einmal ein Zug und ein hustender Junge. Da waren einmal Schnee und ein in Tränen aufgelöstes Mädchen.

Du bist gewachsen, dachte ich, aber ich erkenne dich.

Sie wich nicht zurück, versuchte auch nicht, gegen mich anzukämpfen, aber ich bin mir sicher, dass irgendetwas dem Mädchen verriet, dass ich da war. Konnte sie meinen Atem riechen? Konnte sie meinen verfluchten, kreisenden Herzschlag hören, der sich wie die Sünde, die er ist, in meiner tödlichen Brust um sich selbst dreht? Ich weiß es nicht, aber sie erkannte mich. Sie schaute mir ins Gesicht, und sie schaute nicht weg.

Der Himmel wurde äschern, und wir beide setzten unseren Weg fort. Wir beide schauten zu, wie der Junge in seinen Werkzeugkasten griff und zwischen ein paar Bilderrahmen herumkramte, um dann ein kleines, gelbliches Stofftier herauszuziehen.

Vorsichtig kletterte er zu dem sterbenden Mann.

Er setzte den lächelnden Teddybären behutsam auf die Schulter des Piloten. Die Spitze des Plüschohrs berührte seine Kehle.

Der sterbende Mann atmete ein. Er sprach. Auf Englisch sagte er: »Thank you.« Danke. Die kerzengeraden Schnitte öffneten sich, während er sprach, und ein kleiner Blutstropfen rollte ihm schräg über die Kehle.

»Was?«, fragte Rudi. »Was haben Sie gesagt?«

Unglücklicherweise war ich schneller als er. Die Zeit war gekommen, und ich griff in das Cockpit hinein. Langsam zog ich die Seele des Piloten aus der zerknitterten Uniform und rettete sie aus dem Flugzeugwrack. Die Menge spielte mit der Stille, während ich mich hindurchdrängte. Ich kämpfte mich frei.

Über mir verfinsterte sich der Himmel – ein letzter Moment Dunkelheit -, und ich hätte schwören können, dass ich da oben ein schwarzes Zeichen in Form eines Hakenkreuzes erkennen konnte. Es hing schief und schien zu trödeln.

»Heil Hitler«, sagte ich, aber da war ich schon zwischen den Bäumen. Hinter mir hockte ein Teddy auf der Schulter einer Leiche. Eine Kerze mit zitronengelber Flamme stand zwischen den Zweigen. Die Seele des Piloten lag in meinen Armen.

Wahrscheinlich hat in all den Jahren von Hitlers Herrschaft dem Führer niemand treuer gedient als ich. Ein menschliches Herz ist nicht wie das meine beschaffen. Das menschliche Herz folgt einer Geraden, während meines Kreise zieht und ich daher immerwährend zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein kann. Entsprechend erlebe ich auch die Menschen in ihrem besten und in ihrem schlechtesten Licht. Ich sehe ihre Hässlichkeit und ihre Schönheit, und ich frage mich, wie ein und dieselbe Sache beides zugleich sein kann. Doch um eines beneide ich sie: Menschen haben wenigstens so viel Verstand, um zu sterben.

HEIMKEHR

Es war die Zeit von Blutern und Flugzeugwracks und Teddybären, aber das erste Quartal des Jahres 1943 endete für die Bücherdiebin dennoch mit einem Lächeln.

Anfang April wurde Hans Hubermanns Gips verkürzt, bis lediglich oberhalb des Knies, und er stieg in den Zug nach München. Eine Woche lang durfte er sich zu Hause erholen, und dann sollte er sich den Bürohengsten der Wehrmacht in München anschließen. Er würde die Papierarbeit über die Aufräumarbeiten in den Münchener Fabriken, Häusern, Kirchen und Hospitälern erledigen. Die Zeit würde zeigen, ob er später wieder hinausgeschickt würde, um selbst Hand anzulegen. Das hing von seinem Bein ab und vom Zustand der Stadt.

Bei seiner Heimkehr war es dunkel. Er kam einen Tag später als erwartet, weil der Zug von einem Luftangriff aufgehalten worden war. Er stand vor der Tür von Nummer 33 in der Himmelstraße und ballte die Hand zur Faust.

Vier Jahre zuvor hatte er Liesel in Empfang genommen und durch diese Tür gelockt. Max Vandenburg hatte gestanden, wo er jetzt stand, mit einem Schlüssel, der ihm in die Hand biss. Jetzt war Hans Hubermann an der Reihe. Er klopfte vier Mal, und die Bücherdiebin öffnete.

»Papa. Papa.«

Sie sagte es wohl hundert Mal, während sie ihn in der Küche umarmte und nicht mehr loslassen wollte.

Später, nachdem sie gegessen hatten, saßen sie bis in die Nacht hinein am Küchentisch, und Hans erzählte seiner Frau und Liesel Meminger alles. Er erklärte ihnen die Aufgaben der LSE, berichtete von den raucherfüllten Straßen und den beklagenswerten, verlorenen, umherirrenden Seelen. Und von Reinhold Zucker, dem armen, dummen Reinhold Zucker. Es dauerte Stunden.

Um ein Uhr morgens ging Liesel ins Bett, und Papa kam und setzte sich zu ihr, wie früher. Sie wachte mehrmals auf, um nachzusehen, ob er noch da war, und er enttäuschte sie nicht.

Die Nacht war still.

Ihr Bett war warm und weich, voller Zufriedenheit.

Ja, es war eine herrliche Nacht für Liesel Meminger, und die Stille, die Wärme und die Weichheit sollten noch etwa drei Monate lang anhalten.

Aber ihre Geschichte reichte für sechs.

TEIL 10

DIE BÜCHERDIEBIN

Es wirken mit:

der Weltuntergang – der achtundneunzigste Tag –

ein Kriegstreiber – die Wege der Worte – ein katatonisches

Mädchen – Bekenntnisse – Ilsa Hermanns kleines schwarzes

Buch – Flugzeugbäuche – und ein Berg aus Schutt

DER WELTUNTERGANG (Teil 1)

Wieder gestatte ich euch einen Blick auf das Ende. Vielleicht um den Schlag zu mindern, vielleicht auch um mir selbst das Erzählen leichter zu machen. Wie auch immer, ich muss euch sagen, dass es in der Himmelstraße regnete, als für Liesel Meminger die Welt unterging.