Der Himmel tropfte.
Wie ein Wasserhahn, den sich ein Kind bemüht hatte zuzudrehen, es aber nicht ganz geschafft hatte. Die ersten Tropfen waren kühl. Ich fühlte sie auf meinen Händen, als ich vor Frau Lindners Eckladen stand.
Über mir konnte ich sie hören.
In dem trüben Himmel sah ich die blechernen Flugzeuge. Ich sah, wie sich ihre Bäuche öffneten und die Bomben gleichmütig herausfielen. Sie waren weit von ihrem eigentlichen Ziel entfernt, wie so oft.
HOFFNUNGSVOLLE ÜBERLEGUNG
Niemand wollte die Himmelstraße bombardieren.
Niemand würde eine Straße bombardieren wollen, die nach
dem Himmel benannt ist, oder?
Oder?
Die Bomben regneten herab, und kurz darauf kochten die Wolken, und die kalten Regentropfen verwandelten sich in Asche. Wie Schneeflocken segelten sie hernieder.
Die Himmelstraße wurde dem Erdboden gleichgemacht.
Häuser wurden von einer Seite der Straße zur anderen geschoben. Das gerahmte Bild eines ernst blickenden Führers wurde auf den zerstörten Boden geschmettert. Und doch lächelte er, auf jene ernsthafte Weise. Er wusste etwas, was wir anderen nicht wussten. Und ich wusste etwas, was er nicht wusste. All das, während die Menschen schliefen.
Rudi Steiner schlief. Mama und Papa schliefen. Frau Holzinger, Frau Lindner, Tommi Müller. Alle schliefen. Alle starben.
Nur ein Mensch überlebte.
Sie überlebte, weil sie im Keller saß und die Geschichte ihres eigenen Lebens las und sie auf Fehler überprüfte. Vor einiger Zeit hatte man diesen Raum als zu niedrig erklärt, aber in dieser Nacht, in der Nacht des 7. Oktober, reichte er aus. Die Hüllen der Zerstörung stürzten zusammen, und Stunden später, nachdem sich eine seltsame, ungepflegte Stille auf Molching niedergelassen hatte, konnten die Männer der LSE etwas hören. Ein Echo. Da unten, irgendwo, hämmerte ein Mädchen mit einem Bleistift gegen eine Farbdose.
Alle hielten inne, mit gespitzten Ohren und gekrümmten Rücken, und als sie es wieder hörten, fingen sie an zu graben.
Zementbrocken und Dachziegel.
Ein Stück Wand, auf die eine baumelnde Sonne gemalt
worden war.
Ein unglücklich wirkendes Akkordeon, das aus seinem
zerbrochenen Kasten spähte.
Alles wurde hinaufgeworfen.
Als ein weiteres Stück Hauswand beiseitegeräumt war, sah einer der Männer die Haare der Bücherdiebin.
Der Mann hatte so ein nettes Lachen. Er verkündete die Geburt eines Kindes. »Ich kann’s nicht glauben – sie lebt!«
Zwischen den durcheinanderlaufenden und schreienden Männern herrschte eine solche Freude. Ich konnte ihre Begeisterung nicht recht teilen.
Ich hatte ihren Papa in einem Arm gehalten und ihre Mama im anderen. Ihrer beider Seelen waren so weich.
Ein Stück weit entfernt legte man ihre Körper ab, neben den anderen. Papas schöne silbrige Augen fingen schon an zu rosten, und Mamas Papplippen waren halb geöffnet festgefroren, in der Form eines unvollendeten Schnarchens. Diese gotteslästerlichen Deutschen – Jesus, Maria und Josef.
Die rettenden Hände zogen Liesel heraus und fegten Schuttkrümel von ihrer Kleidung. »Liebes Mädchen«, sagten sie, »die Sirenen kamen zu spät. Was hast du da im Keller gemacht? Woher hast du Bescheid gewusst?«
Was sie nicht bemerkten, war das Buch, das das Mädchen noch immer festhielt. Sie schrie ihre Antwort. Ein ohrenbetäubender Schrei einer Lebenden.
»Papa!«
Noch einmal. Ihr Gesicht verzerrte sich, als ihre Stimme eine höhere, panikerfüllte Note traf. »Papa! Papa!«
Sie reichten sie aus den Trümmern hinauf, während sie schrie, heulte und weinte. Wenn sie verletzt war, merkte sie es nicht. Sie kämpfte sich frei, suchte und rief und heulte weiter.
Sie hielt noch immer das Buch in der Hand.
Verzweifelt klammerte sie sich an die Worte, die ihr das Leben gerettet hatten.
DER ACHTUNDNEUNZIGSTE TAG
Siebenundneunzig Tage lang, gerechnet von Hans Hubermanns Rückkehr im April 1943, war alles in bester Ordnung. Manchmal packte ihn die Schwermut bei dem Gedanken an seinen Sohn, der bei Stalingrad kämpfte, aber er hoffte, dass er etwas von seinem eigenen Glück an Hans junior vererbt hatte.
Am dritten Abend zu Hause spielte er in der Küche auf dem Akkordeon. Ein Versprechen war ein Versprechen. Es gab Musik, Suppe, Witze und das Gelächter eines vierzehnjährigen Mädchens.
»Saumensch«, warnte Mama sie, »hör auf, so laut zu lachen. So lustig sind seine Witze nicht. Außerdem sind sie schweinisch...«
Nach einer Woche meldete sich Hans wieder zum Dienst und fuhr in die Stadt zu einem Wehrmachtsoffizier. Zu Hause erzählte er, dass sich dort ein anständiger Vorrat an Zigaretten und Lebensmitteln befand und dass er manchmal ein paar Kekse oder etwas Marmelade mit heimbringen könnte. Es war wie in den guten alten Zeiten. Ein unbedeutender Luftangriff im Mai. Ein »Heil Hitler« hier und da, und alles war gut.
Bis zum achtundneunzigsten Tag.
Sie stand auf der Münchener Straße und sagte: »Jesus,
Maria und Josef, ich wünschte, sie würden sie nicht hier
entlangbringen. Diese elenden Juden bringen nur Pech.
Sie sind ein böses Omen. Jedes Mal, wenn ich sie sehe,
habe ich das Gefühl, dass wir verloren sind.«
Es war dieselbe alte Frau, die die Juden beim ersten Mal, als Liesel sie sah, angekündigt hatte. Von ebener Erde aus betrachtet, war ihr Gesicht eine Backpflaume. Ihre Augen hatten das dunkle Blau einer Vene. Und ihre Prophezeiung war zutreffend.
Im Herzen des Sommers erhielt Molching eine Vorahnung dessen, was kommen würde. Es war so wie immer. Zuerst kam der auf und ab hüpfende Kopf eines Soldaten in Sicht und der Gewehrlauf, der in die Luft über ihm stieß. Dann die zerrüttete Kette aus klirrenden Juden.
Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie diesmal aus der entgegengesetzten Richtung vorbeigetrieben wurden. Sie wurden durch das benachbarte Nebling gebracht, um die Straßen zu kehren und die Aufräumarbeiten zu erledigen, die die Wehrmacht verweigerte. Spät am Tag wurden sie ins Lager zurückgeführt, langsam und müde, geschlagen.
Wieder hielt Liesel Ausschau nach Max Vandenburg. Sie zog die Möglichkeit in Betracht, dass er in Dachau gelandet war, ohne durch Molching gekommen zu sein. Er war nicht dabei. Diesmal nicht.
Aber wartet es nur ab, denn an einem warmen Nachmittag im August würde Max mit ziemlicher Sicherheit mit dem Rest von ihnen durch die Stadt laufen. Aber anders als die anderen würde er nicht zu Boden schauen.
Er weigerte sich, seinen Blick auf jenen Boden zu richten, der dem Führer als Bühne diente.
Er würde die Gesichter in der Münchener Straße nach dem
eines diebischen Mädchens absuchen.