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An diesem Tag im Juli, der – so errechnete Liesel später – gleichzeitig der achtundneunzigste Tag seit der Rückkehr ihres Papas war, stand sie da und studierte den vorrückenden Haufen aus trauervollen Juden, immer auf der Suche nach Max. Sich auf ihn zu konzentrieren schwächte wenigstens den Schmerz des bloßen Zuschauens ab.

Was für ein schrecklicher Gedanke, schrieb sie später im Keller der Himmelstraße, aber sie wusste, dass es stimmte. Der Schmerz, ihnen zuzuschauen. Aber was war mit deren Schmerz? Der Schmerz der stolpernden Schuhe und der Folter und der sich schließenden Tore des Lagers?

Zwei Mal innerhalb von zehn Tagen kamen sie vorbei, und kurz darauf erwies sich die Aussage der backpflaumengesichtigen Frau auf der Münchener Straße als korrekt.

Das Leiden war über sie gekommen.

Wenn sie die Juden als eine Warnung oder ein Vorspiel dafür betrachteten, so hätten sie auch den Führer und sein Bestreben, Russland zu unterwerfen, als den eigentlichen Grund ansehen müssen. Denn als die Himmelstraße Ende Juli erwachte, fand man einen heimgekehrten Soldaten tot auf. Er hing von einem der Deckenbalken in einer Wäscherei neben Frau Lindners Eckladen herab. Ein weiteres menschliches Pendel. Eine weitere Uhr, die aufgehört hatte zu ticken.

Der sorglose Besitzer der Wäscherei hatte die Tür nicht abgeschlossen.

24. JULI, 6.03 UHR MORGENS

In der Wäscherei war es warm,

die Deckenbalken waren fest,

und Michael Holzinger

sprang von dem Stuhl

wie von einer Klippe.

So viele Leute jagten in dieser Zeit hinter mir her, schrien meinen Namen, baten mich, sie mitzunehmen. Dann gab es noch die wenigen, die mich gelegentlich zu sich riefen und mir mit gepresster Stimme zuflüsterten.

»Nimm mich«, sagten sie, und sie ließen sich nicht aufhalten. Sie hatten Angst, keine Frage, aber nicht vor mir. Es war die Angst, alles zu vermasseln und dann wieder sich selbst gegenüberzustehen, der Welt und Menschen wie euch.

Es gab nichts, was ich hätte tun können.

Sie hatten zu viele Möglichkeiten, sie waren zu erfinderisch – und wenn sie es zu gut machten, wie auch immer sie es anstellten, konnte ich mich ihnen nicht verweigern.

Michael Holzinger wusste genau, was er tat.

Er brachte sich um, weil er hatte leben wollen.

Natürlich sah ich Liesel Meminger an diesem Tag nicht. Wie üblich ermahnte ich mich, dass ich viel zu viel zu tun hatte, um in der Himmelstraße zu bleiben und dem Geschrei zu lauschen. Es ist schlimm genug, wenn die Menschen mich auf frischer Tat ertappen, und daher entschied ich mich wie üblich zu einem raschen Abgang, hinein in die frühstücksfarbene Sonne.

Ich hörte nicht die Detonation der Stimme eines alten Mannes, als er den erhängten Körper fand, noch das Geräusch rennender Schritte und herunterklappender Kiefer, als sich mehr Menschen dort versammelten. Ich hörte nicht, wie ein hagerer Mann mit einem Schnurrbart murmelte: »Eine Schande, eine himmelschreiende Schande...«

Ich sah nicht Frau Holzinger flach auf der Himmelstraße liegen, mit weit ausgebreiteten Armen und einem schreienden Gesicht, voller Verzweiflung. Nein, ich erfuhr erst ein paar Monate später davon, als ich zurückkehrte und etwas las, was Die Bücherdiebin hieß. Dort wurde mir berichtet, dass Michael Holzinger nicht seiner verletzten Hand oder einer anderen Wunde erlegen war, sondern der Schuld zu leben.

Im Vorfeld seines Todes hatte das Mädchen bemerkt, dass er nicht schlief, dass jede Nacht Gift für ihn war. Ich stelle mir oft vor, wie er wach lag, schweißgebadet in Laken aus Schnee oder mit Visionen der abgetrennten Beine seines Bruders vor Augen. Liesel schrieb, dass sie ihm manchmal beinahe von ihrem eigenen Bruder erzählt hätte, wie sie es bei Max getan hatte, aber zwischen dem weit entfernten Husten und zwei abgerissenen Beinen schien ihr ein zu großer Unterschied zu bestehen. Wie tröstet man einen Menschen, der so etwas gesehen hatte? Sollte man ihm sagen, dass der Führer stolz auf ihn war, dass der Führer ihn liebte für das, was er in Stalingrad getan hatte? Wie hätte man das je wagen können? Man konnte nur ihm das Reden überlassen. Das Dilemma ist allerdings, dass solche Menschen die wichtigsten Worte für danach aufheben, wenn die Mitmenschen das Pech haben, sie zu finden. Ein Zettel, ein Satz, sogar eine Frage – oder ein Brief, wie in der Himmelstraße im Juli 1943.

MICHAEL HOLZINGERS ABSCHIED

Liebe Mama,

kannst du mir verzeihen?

Ich konnte es einfach nicht länger ertragen.

Ich gehe zu Robert. Es ist mir egal,

was die verdammten Katholiken dazu sagen.

Es muss im Himmel einen Platz geben für Menschen,

die dort gewesen sind, wo ich war.

Du denkst vielleicht, dass ich dich nicht liebe, weil ich tat,

was ich tat, aber ich liebe dich.

Dein Michael

Ausgerechnet Hans Hubermann wurde gebeten, Frau Holzinger die Nachricht zu überbringen. Er stand auf ihrer Türschwelle, und sie las es wohl in seinen Augen. Zwei Söhne in sechs Monaten.

Der Morgenhimmel stand brennend hinter ihm, als die drahtige Frau an ihm vorbeiging. Sie rannte schluchzend auf die Ansammlung zu, weiter unten an der Himmelstraße. Sie sagte den Namen Michael, zwanzig Mal und mehr, aber Michael hatte ihr bereits geantwortet. Die Bücherdiebin schrieb, dass Frau Holzinger den Körper fast eine Stunde lang umarmt hielt. Dann kehrte sie zu der blendenden Sonne der Himmelstraße zurück und setzte sich hin. Sie konnte nicht mehr laufen.

Aus der Ferne schauten die Leute zu. So etwas war leichter, wenn man weiter weg war.

Hans Hubermann saß bei ihr.

Er legte seine Hände auf die ihren, und sie fiel mit dem Rücken auf die harte Erde.

Er ließ es zu, dass ihre Schreie die Straße erfüllten.

Viel später begleitete Hans sie mit äußerster Sorgfalt durch ihr Tor und ins Haus hinein. Und egal wie oft ich versuche, es anders zu sehen, ich kann den Anblick nicht abschütteln …

Wenn ich mir die Szene mit der am Boden zerstörten Frau und dem hochgewachsenen, silberäugigen Mann vorstelle, schneit es in der Küche der Himmelstraße 31.

DER KRIEGSTREIBER

Der Geruch eines frisch geschreinerten Sargs. Schwarze Kleidung. Riesige Koffer unter den Augen. Liesel stand wie alle anderen auf dem Gras. Am selben Nachmittag las sie Frau Holzinger vor. Der Traumträger, das Lieblingsbuch der Nachbarin.

Es war ein geschäftiger Tag, für alle.

27. JULI 1943

Michael Holzinger wurde beerdigt, und die Bücherdiebin las

der Hinterbliebenen vor. Die Alliierten bombardierten

Hamburg – und diesbezüglich kann man von Glück sagen,

dass ich ein wandelndes Wunder bin. Niemand außer mir

könnte über fünfunddreißigtausend Menschen in so

kurzer Zeit forttragen. Nicht in einer Million

Menschenjahren.

Den Deutschen wurde nun langsam, aber sicher die Rechnung präsentiert. Die pickligen, klapprigen Knie des Führers fingen an zu zittern.