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Liesel ging auf ihn zu. Sie hatte den Mut, die Hände auszustrecken und sein bärtiges Gesicht zu halten. »Bist du es wirklich, Max?«

Solch ein herrlicher deutscher Tag, und solch eine aufmerksame Zuschauermenge.

Er ließ seinen Mund ihre Handfläche küssen. »Ja, Liesel, ich bin es.« Er hielt ihre Hand an sein Gesicht und weinte in ihre Finger. Er weinte, als die Soldaten kamen und eine kleine Ansammlung von anmaßenden Juden stehen blieb und zuschaute.

Im Stehen wurde er ausgepeitscht.

»Max«, weinte das Mädchen.

Dann lautlos, während man sie wegschaffte.

Max.

Jüdischer Faustkämpfer.

Maxi Taxi. So nannte dich dieser Freund in Stuttgart, als du auf der Straße gekämpft hast, weißt du noch? Weißt du noch, Max? Du hast es mir erzählt. Ich erinnere mich an alles …

Das warst du – der Junge mit den harten Fäusten, und du sagtest, du würdest dem Teufel ins Gesicht schlagen, wenn er käme, um dich zu holen.

Erinnerst du dich an den Schneemann, Max?

Erinnerst du dich?

Im Keller?

Erinnerst du dich an die weiße Wolke mit dem grauen Herzen?

Der Führer kommt immer noch manchmal und schaut auf dich herunter. Er vermisst dich. Wir alle vermissen dich.

Die Peitsche. Die Peitsche.

Die Peitsche in der Hand des Soldaten fuhr fort. Sie landete auf Max’ Gesicht. Sie spaltete sein Kinn und schnitzte in seine Kehle.

Max fiel zu Boden, und der Soldat wandte sich nun dem Mädchen zu. Sein Mund öffnete sich. Er hatte makellose Zähne.

Ein plötzlicher Blitz fuhr ihr über die Augen. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich gewünscht hatte, dass Ilsa Hermann oder wenigstens die verlässliche Rosa sie schlagen möge, aber keiner von beiden hatte es getan. Am heutigen Tag wurde sie nicht enttäuscht.

Die Peitsche schnitt in ihr Schlüsselbein und griff auf ihr Schulterblatt über.

»Liesel!«

Sie kannte diese Stimme.

Der Soldat schwang seinen Arm, und sie erblickte einen fassungslosen Rudi Steiner in einer Lücke in der Menge. Er rief nach ihr. Sie konnte sein gequältes Gesicht und die gelben Haare sehen. »Liesel, komm weg da!«

Die Bücherdiebin ging nicht weg.

Sie schloss ihre Augen und nahm den nächsten brennenden Hieb in Empfang, und noch einen, bis ihr Körper auf den warmen Asphalt der Straße auftraf. Er erhitzte ihre Wange.

Mehr Worte kamen, diesmal von dem Soldaten.

»Steh auf!«

Der knappe Satz galt nicht dem Mädchen, sondern dem Juden. Er wurde erweitert. »Steh auf, du dreckiges Arschloch, du jüdischer Hurensohn, steh auf, steh auf...«

Max hievte sich hoch.

Noch ein Liegestütz, Max.

Nur noch ein Liegestütz auf dem kalten Kellerboden.

Seine Füße bewegten sich.

Sie zogen ihn, und er ging weiter.

Seine Beine stammelten, und seine Hände wischten an den Spuren der Peitsche, um das Stechen zu lindern. Als er versuchte, sich nach Liesel umzuschauen, legten sich die Hände des Soldaten auf seine blutigen Schultern und schoben.

Der Junge kam zu ihr. Seine schlaksigen Beine beugten sich, und er rief etwas nach links.

»Tommi, komm her, und hilf mir. Wir müssen sie auf die Füße stellen. Tommi, beeil dich!« Er hob die Bücherdiebin unter den Armen hoch. »Liesel, komm schon, du musst von der Straße runter.«

Als sie in der Lage war aufzustehen, schaute sie in die schockierten, gefrorenen Gesichter der Deutschen, wie frisch ausgepackt. Zu ihren Füßen ließ sie sich fallen, aber nur ganz kurz. Am Boden schürfte sie sich die Haut auf der Wange auf, ein Gefühl, als würde ein Streichholz angezündet. Ihr Puls briet den Asphalt.

Weit unten auf der Straße sah sie die schemenhaften Beine und Fersen der zuhinterst laufenden Juden.

Ihr Gesicht brannte, und ihre Arme und Beine wurden von Schmerzen heimgesucht – eine Taubheit, die gleichzeitig wehtat und sie ermüdete.

Sie stand, zum letzten Mal.

Störrisch fing sie an zu gehen und dann zu rennen, um die letzten Schritte von Max Vandenburg einzuholen.

»Liesel, was machst du da?«

Sie entkam dem Griff von Rudis Worten und ignorierte die gaffenden Menschen zu beiden Seiten. Die meisten von ihnen waren stumm. Statuen mit klopfenden Herzen. Wie Zuschauer auf der Ziellinie eines Marathonlaufs. Liesel rief wieder, und sie wurde nicht gehört. Haare hingen ihr in die Augen. »Bitte, Max!«

Nach vielleicht dreißig Metern, gerade als sich ein Soldat umdrehte, wurde Liesel zu Boden gerissen. Hände schlossen sich von hinten um sie, und der Junge von nebenan brachte sie zu Fall. Er zwang ihre Knie auf die Straße und erduldete die Strafe dafür. Er sammelte ihre Schläge ein, als wären es Geschenke. Ihre knochigen Hände und Ellbogen riefen nur ein leises Stöhnen hervor. Er nahm die lauten, klobigen Flecken aus Speichel und Tränen auf seinem Gesicht hin, als ob sie ihm das Liebste wären. Die Hauptsache aber war, dass er sie festhalten konnte.

Ein Junge und ein Mädchen lagen mit verschlungenen Gliedern auf der Münchener Straße.

Sie waren verdreht und angespannt.

Zusammen schauten sie den verschwindenden Menschen nach. Sie schauten zu, wie sie sich auflösten, wie menschliche Tabletten in der feuchten Luft.

BEKENNTNISSE

Nachdem die Juden gegangen waren, lösten sich Rudi und Liesel voneinander. Die Bücherdiebin sagte nichts. Auf Rudis Fragen gab es keine Antworten.

Liesel kehrte auch nicht heim. Verloren ging sie zum Bahnhof und wartete stundenlang auf ihren Papa. Rudi stand während der ersten zwanzig Minuten bei ihr, aber da es noch über einen halben Tag dauerte, bis Hans nach Hause kam, ging er und holte Rosa. Auf dem Weg dorthin erzählte er ihr, was geschehen war, und als Rosa eintraf, stellte sie dem Mädchen keine Fragen. Sie hatte die Puzzleteilchen bereits zusammengesetzt und kam nur an ihre Seite und überredete sie schließlich, sich hinzusetzen. Sie warteten gemeinsam.

Als Papa alles erfuhr, ließ er seine Tasche fallen und versetzte der Bahnhofsluft ein paar Fußtritte.

Keiner von ihnen dachte an diesem Abend an Essen. Papas Finger entweihten das Akkordeon, ermordeten ein Lied nach dem anderen, egal wie viel Mühe er sich auch gab. Nichts mehr schien zu funktionieren.

Drei Tage lang blieb die Bücherdiebin im Bett.

Jeden Morgen und jeden Nachmittag klopfte Rudi an die Haustür und fragte, ob sie immer noch krank war. Das Mädchen war nicht krank.

Am vierten Tag ging Liesel zu ihrem Nachbarn und fragte, ob er mit ihr noch einmal zu den Weihnachtsbäumen gehen würde, wo sie im vorigen Jahr das Brot ausgelegt hatten.

»Ich hätte dir schon früher davon erzählen sollen«, sagte sie.

Wie verabredet gingen sie die Straße nach Dachau entlang. Sie standen zwischen den Bäumen. Bei ihnen standen lange Konturen aus Licht und Schatten. Tannenzapfen lagen überall wie Kekskrümel verstreut.

Danke, Rudi.

Für alles. Dafür, dass du mich von der Straße aufgelesen hast, dass du mich aufgehalten hast …

Sie sagte nichts davon.

Ihre Hand lehnte an einem flockigen Ast neben ihr. »Rudi, wenn ich dir jetzt etwas sage, versprichst du, nichts davon zu verraten, und zwar niemandem?«

»Natürlich.« Er spürte die Ernsthaftigkeit im Gesicht des Mädchens und die Schwere in ihrer Stimme. Er lehnte sich an den nächsten Baum. »Was ist los?«

»Versprich es.«

»Das habe ich bereits getan.«

»Dann versprich es noch einmal. Du darfst es weder deiner Mutter noch deinen Brüdern oder Tommi Müller erzählen. Niemandem.«

»Ich verspreche es.«

Lehnend.

Zu Boden schauend.

Mehrmals suchte sie nach dem richtigen Anfang, las die Sätze zu ihren Füßen auf, befestigte Worte an Tannenzapfen und abgebrochenen Zweigen.