»Leb wohl, Brand«, sagte ich und begann zu reiten.
Ich beschrieb im Gegenuhrzeigersinn einen großen Kreis auf dem Gestein, wobei ich Stars rechtes Auge vor den Flammen am Rand abschirmte. Ich hörte Brand erneut auflachen; er hatte noch nicht gemerkt, was ich im Schilde führte.
Zwei große Felsen . . . gut. Ich ritt daran vorbei, auf Kurs bleibend. Zu meiner Linken jetzt eine zerklüftete Steinbarriere, eine Anhöhe, eine Senke . . . Wirre Schatten warfen die Flammen über meinen Weg . . . Dorthin. Hinab . . . Hinauf. Ein Hauch von Grün in jenem Lichtfleck. Ich spürte die Verschiebung einsetzen.
Die Tatsache, daß es auf geradem Kurs leichter fällt, besagt nicht, daß es im Kreis nicht ebenfalls geht. Wir reiten jedoch so oft geradeaus, daß wir die andere Möglichkeit oft vergessen.
Als ich mich den beiden großen Felsen von neuem näherte, spürte ich die Verschiebung noch mehr. Nun begriff auch Brand, was hier vorging.
»Halt, Corwin!«
Ich winkte ihm grüßend zu und verschwand zwischen den Felsen, tauchte hinab in einen schmalen Canyon, in dem zahlreiche gelbe Lichtflecken flirrten. Wie bestellt.
Ich zog meinen Mantel von Stars Kopf und spornte das Tier an. Der Canyon beschrieb eine Biegung nach rechts. Wir folgten ihm in eine besser beleuchtete Zone, die sich verbreiterte und immer mehr aufhellte.
. . . Unter einen großen Felsvorsprung, darüber ein milchiger Himmel, der auf der anderen Seite perlgrau schimmerte.
Immer tiefer reitend, immer schneller, immer weiter . . . Eine gezackte Klippe krönte den Hang zu meiner Linken, begrünt von gewundenen Buschpflanzen unter einem rosé angehauchten Himmel.
Ich ritt, bis aus dem Grün Blau geworden war unter einem gelben Himmel, bis die Schlucht einer fliederfarbenen Ebene entgegenstieg. Hier rollten orangerote Felsbrocken im Takt unserer Huftritte, die den Boden zum Erbeben zu bringen schienen. Ich ritt unter wirbelnden Kometen dahin und erreichte schließlich an einem Ort schwerer Parfumdüfte die Küste eines blutroten Meeres. Am Strand reitend sah ich eine große grüne und eine kleine bronzefarbene Sonne aus dem Himmel sinken, während skelettartige Flotten aufeinanderprallten und Tiefseeschlangen die orangeroten und blauen Segel umschwammen. Das Juwel pulsierte vor meiner Brust und schenkte mir Kraft. Ein heftiger Wind wehte und trieb uns durch einen kupferwolkigen Himmel über einem jaulenden Abgrund, der sich endlos zu erstrecken schien, schwarzgründig, funkendurchstoben, gefüllt mit betäubenden Gerüchen . . .
Hinter mir ewiges Donnergrollen . . . Zarte Linien, wie die Bruchstellen eines alten Gemäldes, sich überall ausbreitend . . . Kalt, ein alle Düfte tötender Wind verfolgt uns . . .
Linien . . . Die Risse erweitern sich, Schwärze füllt sie, fließt heraus . . . Dunkle Streifen wischen vorbei, hinauf, herab, kreiseln in sich selbst . . . Die Umrisse eines Netzes, die Anstrengungen einer riesigen unsichtbaren Spinne, die die Welt in ihr Netz locken will . . .
Hinab und immer weiter hinab . . . Erneut der Boden, runzlig und ledrig wie der Nacken einer Mumie . . . Unser pulsierender Ritt: lautlos . . . Weicher der Donner, nachlassend der Wind . . . Vaters letzter Atemhauch? Jetzt Tempo und fort . . .
Ein Engerwerden der Linien, bis hinab zur Feinheit eines Kupferstichs, dann in der Hitze der drei Sonnen verblasend . . . Und noch schneller . . .
Ein Reiter, näherkommend . . . die Hand auf den Schwertgriff legend, meinem Beispiel folgend . . . Ich. Ich, der ich zurückkehre? Gleichzeitig, unser Gruß. Irgendwie durch den anderen hindurch; die Luft ist in jenem trockenen Augenblick wie ein Wasservorhang . . . Was für ein Carroll´scher Spiegel, was für ein Rebma- und Tir-na-Nog´th-Effektl Doch weit entfernt zur Linken windet sich ein schwarzes Ding . . . Wir folgen der Straße . . . Sie führt mich weiter . . .
Weißer Himmel, weißer Boden und kein Horizont . . . Sonnen- und wolkenlos das Panorama . . . Nur jener schwarze Streifen in der Ferne, und überall schimmernde Pyramiden, mächtig und beunruhigend . . .
Wir ermüden. Mir gefällt dieser Ort nicht . . . Doch dem unbekannten Geschehnis, das uns verfolgt, sind wir zunächst entkommen. Zieh die Zügel an!
Ich war müde, spürte jedoch eine seltsame Vitalität in mir. Sie schien von meiner Brust auszugehen . . . Das Juwel, natürlich! Ich versuchte erneut auf seine Kraft zurückzugreifen. Ich spürte die Energie auswärts in meine Glieder strömen, kaum haltmachend an den Spitzen. Es war beinahe, als würde ich . . .
Ja. Ich projizierte meinen Willen und legte ihn auf die kahle geometrische Umgebung. Sie begann sich zu verändern.
Eine Bewegung. Die Pyramiden rutschten vorbei und wurden dabei dunkler. Sie schrumpften, verschmolzen, verwandelten sich in Kies. Die Welt stellte sich auf den Kopf, und ich stand wie auf der Unterseite einer Wolke und sah Landschaften unter und über mir vorbeizucken.
Licht strömte aufwärts, ausgehend von einer goldenen Sonne unter meinen Füßen, hüllte mich ein. Aber auch diese Erscheinung ging vorbei, und der weiche Boden verdunkelte sich, und Wasser schoß empor, um das vorbeiziehende Land aufzulösen. Blitze zuckten zur Welt über mir hinauf, wollten sie auseinanderbrechen lassen. Da und dort bröckelte sie, und die Bruchstücke fielen rings um mich nieder.
In einer vorbeihuschenden Woge der Dunkelheit begannen sie zu trudeln.
Als das Licht zurückkehrte, jetzt bläulich schimmernd, hatte es keinen Ausgangspunkt mehr und erhellte kein Land.
. . . Goldene Brücken durchqueren die Leere in gewaltigen Bögen, von denen sich einer funkelnd auch unter uns erstreckt. Wir folgen seinem Lauf, dabei stehen wir still wie ein Denkmal . . . Dies dauert etwa ein Zeitalter. Ein Phänomen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Schnellstraßenhypnose hat, macht sich durch meine Augen bemerkbar, läßt mich gefährlich träge werden.
Ich tue, was ich kann, um unser Vorankommen zu beschleunigen. Ein weiteres Zeitalter vergeht.
Endlich erscheint weit vor uns als vager, vernebelter Fleck unser Ziel, das trotz unserer großen Geschwindigkeit nur langsam wächst.
Als wir es endlich erreichen, ist es gigantisch – eine Insel in der Leere, mit metallischen goldenen Bäumen bewaldet . . .
Ich stoppe die Bewegung, die uns bis jetzt mitgerissen hat, und wir traben aus eigener Kraft weiter, in den seltsamen Wald hinein. Unter den Hufen knirscht Gras wie Aluminiumfolie. Seltsame Früchte, bleich schimmernd, hängen von den Bäumen ringsum. Von tierischem Leben ist nicht sofort etwas zu spüren. Weiter in den Wald vordringend, erreichen wir eine kleine Lichtung, die von einem quecksilbernen Bach geteilt wird. Dort steige ich ab.
»Bruder Corwin«, ertönt da die Stimme von neuem. »Ich habe auf dich gewartet.«
4
Ich drehte mich zum Wald um, sah ihn daraus hervortreten. Ich zog meine Waffe nicht, da auch er nicht danach gegriffen hatte. Allerdings stieß ich mit dem Verstand tief in das Juwel vor. Nach der eben beendeten Übung war mir klar, daß ich nun weitaus mehr damit erreichen konnte, als nur das Wetter zu steuern. Wie groß Brands Macht auch sein mochte, ich spürte, daß ich nun eine Waffe besaß, mit der ich ihm widerstehen konnte. Das Pulsieren des Juwels verstärkte sich, als ich mich darauf konzentrierte.
»Waffenstillstand«, sagte Brand. »Einverstanden? Können wir reden?«
»Ich glaube nicht, daß wir einander irgend etwas zu sagen haben«, gab ich zurück.
»Wenn du mir keine Gelegenheit dazu gibst, wirst du es nie erfahren, oder?«
Etwa sieben Meter entfernt blieb er stehen, warf sich den grünen Mantel über die linke Schulter und lächelte.
»Also gut. Sag, was du zu sagen hast«, knurrte ich.
»Ich wollte dich aufhalten«, begann er. »Vorhin, dort hinten. Dabei ging es mir um das Juwel. Offensichtlich weißt du inzwischen, was es damit auf sich hat, wie wichtig es ist.«
Ich schwieg.
»Vater hat es bereits gebraucht«, fuhr er fort, »und ich muß dir leider sagen, daß er das selbstgesteckte Ziel damit nicht erreicht hat.«
»Was? Woher willst du das wissen?«