»Ich kann durch die Schatten blicken, Corwin. Eigentlich hatte ich angenommen, deine Schwester hätte dich in diesen Dingen gründlicher unterwiesen. Es kostet mich nur ein wenig geistige Anstrengung, und ich kann alles wahrnehmen, was ich sehen will. Natürlich interessierte mich das Ergebnis dieser Affäre. Ich habe also zugesehen. Er ist tot, Corwin. Die Anstrengung war zuviel für ihn. Er verlor die Kontrolle über die Kräfte, mit denen er umging, und wurde von ihnen zerstört – zu der Zeit hatte er das Muster gut zur Hälfte durchschritten.«
»Du lügst ja!« rief ich und berührte das Juwel.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich gebe zu, daß ich auch zum Lügen fähig bin, wenn es meinen Zielen dient. Diesmal aber sage ich die Wahrheit. Vater ist tot. Ich habe ihn fallen sehen. Daraufhin brachte dir der Vogel das Juwel, so hatte er es bestimmt. Nun befinden wir uns in einem Universum ohne Muster.«
Ich wollte ihm nicht glauben. Aber es war möglich, daß Vater es nicht geschafft hatte. Der einzige Experte in diesen Dingen, Dworkin, hatte mir bestätigt, wie schwierig die Aufgabe war, die Vater sich gestellt hatte.
»Nehmen wir einmal an, du hast recht – was geschieht dann?« fragte ich.
»Die Dinge fallen auseinander«, antwortete er. »Schon ist das Chaos dabei, das Vakuum um Amber zu füllen. Ein gewaltiger Strudel hat sich gebildet, der immer weiter anwächst. Er breitet sich unhaltbar aus, die Schattenwelten vernichtend, und wird erst innehalten, wenn er auf die Burgen des Chaos stößt, womit die Entwicklung der Schöpfung dann einen vollen Kreis beschrieben hat und das Chaos wie zu Anfang über alles gebietet.«
Ich war wie betäubt. Hatte ich mich aus Greenwood befreit, hatte ich all die Mühen und Gefahren auf mich genommen, um jetzt dieses Ende zu erleben? Sollte alles ohne Bedeutung, Form, Inhalt und Leben sein, nur weil die Dinge einer Art Vollendung entgegengedrängt worden waren?
»Nein!« sagte ich. »Das kann nicht sein.«
»Es sei denn . . .«, sagte Brand leise.
»Es sei denn – was?«
»Es sei denn, ein neues Muster wird geschrieben, eine neue Ordnung wird geschaffen, um die Form zu bewahren.«
»Du meinst, einer von uns soll in die Wirrnis zurückkehren und den Versuch machen, die Sache zu vollenden? Du hast eben selbst gesagt, daß es den Ort gar nicht mehr gibt.«
»Nein. Natürlich nicht. Aber die eigentliche Lage ist unwichtig. Wo immer es ein Muster gibt, befindet sich der Mittelpunkt. Ich könnte es gleich hier tun.«
»Du meinst, du könntest schaffen, was Vater nicht gelungen ist?«
»Ich muß es versuchen. Ich bin der einzige, der genug darüber weiß und ausreichend Zeit hat, ehe die Wogen des Chaos eintreffen. Hör zu, ich gebe alles zu, was Fiona dir zweifellos über mich berichtet hat. Ich habe üble Pläne geschmiedet und auch danach gehandelt. Ich habe mich mit den Feinden Ambers eingelassen. Ich habe das Blut unserer Familie vergossen. Ich versuchte, dir das Gedächtnis auszubrennen. Aber die Welt, wie wir sie kennen, wird in diesem Augenblick vernichtet – und ich lebe auch darin. Alle meine Pläne – alles! – wird vernichtet werden, wenn nicht ein gewisses Maß an Ordnung bewahrt werden kann. Vielleicht haben die Lords des Chaos mich in diesem Punkt getäuscht. Es fällt mir schwer, so etwas zuzugeben, doch ich muß mit der Möglichkeit rechnen. Es ist allerdings nicht zu spät, sie von uns aus hereinzulegen. Wir können die neue Bastion der Ordnung hier an diesem Ort errichten.«
»Wie?«
»Ich brauche das Juwel – und deine Hilfe. Hier soll das neue Amber entstehen.«
»Einmal angenommen – arguendo –, ich gebe dir das Juwel. Würde das Muster mit dem alten identisch sein?«
Er schüttelte den Kopf.
»Das wäre nicht möglich, so wenig wie das Muster, das Vater erschaffen hätte, Dworkins Muster ähnlich gewesen wäre. Es ist unmöglich, daß zwei Autoren dieselbe Geschichte genau gleich erzählen. Individuelle stilistische Unterschiede sind unvermeidlich. Sosehr ich mich auch bemühte, das Original nachzumachen, meine Version würde geringfügig anders aussehen.«
»Wie könntest du das neue Muster schaffen«, fragte ich, »solange du auf das Juwel nicht voll eingestimmt bist? Du brauchtest ein Muster, um den Vorgang der Einstimmung abzuschließen – wie du sagst, ist das Muster aber zerstört. Was nun?«
»Ich sagte ja, daß ich deine Hilfe brauche«, erwiderte er. »Es gibt eine zweite Möglichkeit, jemanden auf das Juwel einzustimmen – dazu ist die Mitwirkung einer Person erforderlich, die bereits eingestimmt ist. Du müßtest dich noch einmal durch das Juwel projizieren und mich dabei mitnehmen – in und durch das Ur-Muster, das dahinter liegt.«
»Und dann?«
»Nun, wenn wir die Mühen hinter uns haben, bin ich eingestimmt, du gibst mir das Juwel, ich schreibe ein neues Muster, und dann sind wir wieder im Geschäft. Die Dinge halten zusammen. Das Leben geht weiter.«
»Und was ist mit dem Chaos?«
»Das neue Muster wird makellos sein. Unsere Gegner verfügen dann nicht mehr über die schwarze Straße, die ihnen Zugang zu Amber verschafft.«
»Wie sollte das neue Amber geführt werden, nachdem Vater nun tot ist?«
Er lächelte schief. »Für meine Mühen steht mir doch sicher etwas zu, meinst du nicht? Ich riskiere immerhin mein Leben, und die Chancen stehen nicht besonders gut.«
Ich erwiderte sein Lächeln.
»Wenn ich mir so ansehe, was dabei herauszuholen ist – warum gehe ich dann nicht das Risiko allein ein?« fragte ich.
»Weil du an dem scheitern würdest, was auch Vater zu Fall gebracht hat – an den Kräften des Chaos. Wenn eine solche Aktion beginnt, werden sie aus einer Art kosmischem Reflex heraus zusammengerufen. Meine Erfahrungen mit ihnen sind größer als die deinen – Du hättest keine Chance. Ich – vielleicht.«
»Nun wollen wir einmal annehmen, daß du mich belügst, Brand. Oder kleiden wir es in die freundlicheren Worte, daß du bei all dem Durcheinander keinen klaren Eindruck gewinnen konntest. Was ist, wenn Vater Erfolg gehabt hätte? Wenn bereits ein neues Muster bestünde? Was würde geschehen, wenn du hier und jetzt ein neues schüfest?«
»Ich . . . so etwas hat es noch nie gegeben. Woher soll ich das wissen?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte ich. »Könntest du auf diesem Wege trotzdem deine eigene Version der Realität erreichen? Handelte es sich um die Absplittung eines neuen Universums – Amber und Schatten – nur für dich? Würde unser Universum dadurch ausgeschaltet? Oder wäre die neue Schöpfung etwas Zusätzliches? Vielleicht gäbe es auch eine gewisse Überlagerung? Was meinst du angesichts unserer Situation?«
Er zuckte die Achseln.
»Ich habe dir bereits geantwortet. Niemand hat so etwas bisher getan. Woher sollte ich es wissen?«
»Aber ich glaube, daß du es weißt oder es dir zumindest ausmalen kannst. Und ich glaube, genau das hast du im Sinn, genau das willst du versuchen – weil dir nichts anderes übrigbleibt. Dein Vorgehen ist für mich ein Anzeichen dafür, daß Vater doch Erfolg gehabt hat und du nur noch einen Trumpf ausspielen kannst. Aber dazu brauchst du mich und das Juwel. Beides sollst du nicht bekommen.«
Er seufzte. »Ich hatte eigentlich mehr von dir erwartet. Aber schön. Du irrst dich zwar, aber lassen wir es darauf beruhen. Hör mir wenigstens gut zu. Anstatt alles untergehen zu lassen, will ich das Reich mit dir teilen.«
»Brand«, antwortete ich, »verzieh dich! Du bekommst das Juwel nicht, und helfen werde ich dir auch nicht. Ich habe mir deine Vorschläge angehört, und ich glaube, du lügst.«
»Du hast Angst«, sagte er, »Angst vor mir. Ich werfe dir nicht vor, daß du mir nicht vertrauen willst. Aber du machst einen großen Fehler. Du brauchst mich.«
»Jedenfalls habe ich meine Entscheidung getroffen.«
Er machte einen Schritt in meine Richtung. Und noch einen.
»Was immer du haben willst, Corwin. Ich kann dir alles geben, was du dir wünschst.«
»Ich war mit Benedict in Tir-na Nog´th«, sagte ich, »als du ihm dasselbe Angebot machtest: ich schaute durch seine Augen und hörte mit seinen Ohren zu. Ich will davon nichts wissen, Brand. Ich werde meine Mission fortsetzen. Wenn du glaubst, du könntest mich daran hindern, ist der jetzige Zeitpunkt ebenso günstig wie jeder andere.«