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Ich ging auf ihn zu. Ich wußte, ich würde ihn töten, wenn ich ihn erreichte. Ich ahnte auch, daß ich nicht an ihn herankommen würde.

Er erstarrte. Er wich einen Schritt zurück.

»Du machst einen großen Fehler!« warnte er mich.

»Das glaube ich nicht. Ich finde, ich tue genau das Richtige.«

»Ich werde nicht gegen dich kämpfen«, sagte er hastig. »Nicht hier, nicht am Abgrund. Du hast deine Chance aber gehabt. Wenn wir uns das nächstemal begegnen, nehme ich dir das Juwel ab.«

»Was soll es dir nützen, wo du doch nicht darauf eingestimmt bist?«

»Vielleicht gibt es noch einen Weg, damit umzugehen – schwieriger, aber immerhin denkbar. Du hast deine Chance vertan. Leb wohl!«

Er zog sich in den Wald zurück. Ich folgte ihm, doch er war verschwunden.

Ich verließ jenen Ort und ritt auf der Straße im Nichts weiter. Die Möglichkeit, daß Brand vielleicht die Wahrheit gesagt hatte – oder zumindest zum Teil –, wies ich weit von mir. Trotzdem quälten mich seine Worte. Wenn es Vater nun wirklich nicht geschafft hatte? Dann war mein Ritt wahrhaft sinnlos, dann war alles vorbei, eine bloße Frage der Zeit, bis sich das Chaos ringsum manifestierte. Ich verzichtete darauf, mich umzusehen, für den Fall, daß sich mir etwas näherte. Ich begann einen nicht allzu schnellen Höllenritt. Ich wollte die anderen erreichen, ehe die Wogen des Chaos bis zu ihnen vordrangen, nur um sie wissen zu lassen, daß ich mir meinen Glauben bewahrt hatte, um ihnen zu zeigen, daß ich bis zuletzt mein Bestes gegeben hatte. Ich fragte mich, wie die große Schlacht wohl stand. Oder hatte sie womöglich noch gar nicht begonnen?

Ich trabte über die Brücke, die sich unter dem heller werdenden Himmel zu verbreitern begann. Als sie sich wie eine goldene Ebene ringsum ausbreitete, begann ich mich mit Brands Drohung zu beschäftigen. Wollte er mit seinen Worten lediglich Zweifel wecken, mein Unbehagen steigern und meine Entschlossenheit lahmen? Möglich war es. Doch wenn er das Juwel brauchte, mußte er mir irgendwo einen Hinterhalt legen. Ich hatte Respekt vor der seltsamen Macht, die er sich über die Schatten erwerben konnte. Es erschien geradezu unmöglich, sich auf einen Angriff durch einen Mann vorzubereiten, der jeden meiner Schritte beobachten und sich ohne Verzug an die günstigste Stelle versetzen konnte. Wann würde er zuschlagen? Nicht sofort, nahm ich an. Zuerst wollte er mich bestimmt nervös machen – dabei war ich bereits erschöpft und schon ziemlich gereizt. Früher oder später brauchte ich Ruhe und Schlaf. Unmöglich, daß ich die weite Strecke in einem Gewaltritt schaffte, sosehr ich mein Tempo auch beschleunigte.

Orangerote und grüne Nebelschwaden huschten vorbei, umwirbelten mich, begannen die Welt zu füllen. Der Boden unter uns hallte wie Metall. Von Zeit zu Zeit war ein melodisches Klingeln zu hören wie von aneinanderschlagenden Kristallen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Erinnerungen an zahlreiche Welten kamen und gingen, wie es ihnen beliebte. Ganelon, mein Freund-Feind, und mein Vater, Feind-Freund, verschmolzen und trennten sich wieder, trennten sich und verschmolzen miteinander. Irgendwo fragte mich einer der beiden, wer das Recht auf den Thron habe. Ich hatte angenommen, die Frage käme von Ganelon, der unsere Motive wissen wollte. Jetzt war mir klar, daß Vater meine Gefühle hatte ausloten wollen. Er hatte sich ein Urteil gebildet, seine Entscheidung getroffen. Und ich kniff nun den Schwanz ein. Ich weiß nicht, ob hier eine Entwicklungsstörung vorlag, der Wunsch, einen solchen Mühlstein loszuwerden, oder eine plötzliche Erkenntnis auf der Grundlage meiner Erfahrungen der letzten Jahre – langsam in mir wachsend, mir eine reifere Einstellung zur beschwerlichen Rolle des Monarchen verschaffend, abseits der wenigen Augenblicke der Pracht und des Ruhms. Ich erinnerte mich an mein Leben auf der Schatten-Erde, Befehle ausführend, Befehle gebend. Gesichter schwammen vor meinem inneren Auge vorbei, Menschen, die ich im Laufe der Jahrhunderte kennengelernt hatte – Freunde, Feinde, Ehefrauen, Geliebte, Verwandte. Lorraine schien mich weiterzulocken – Moire lachte, Deirdre weinte. Wieder kämpfte ich gegen Eric. Ich dachte an das erste Durchschreiten des Musters, als ich noch ein Junge war, und die spätere Wiederholung, da ich Schritt um Schritt das Gedächtnis zurückerhalten hatte. Morde, Diebereien, Schurkereien, Verführungen – sie alle kehrten zurück, weil sie – wie Mallory sagt – vorhanden waren. Es gelang mir nicht einmal, sie alle in zeitlicher Reihenfolge richtig zu plazieren. Da es keine Schuldgefühle gab, bereiteten sie mir auch kein großes Unbehagen. Zeit, Zeit und noch mehr Zeit hatte die Kanten der unangenehmeren Dinge abgeschliffen, hatte verändernd auf mich gewirkt. Ich sah meine früheren Ichs als andere Menschen, Bekannte, denen ich entwachsen war. Ich fragte mich, wie ich je mit ihnen hatte identisch sein können. Im Voranstürmen schienen sich Szenen aus meiner Vergangenheit im Nebel ringsum zu verfestigen. Dichterische Umschreibungen waren nicht mehr möglich. Kämpfe, an denen ich teilgenommen hatte, nahmen greifbare Formen an, bis auf das völlige Fehlen von Geräuschen – das Aufzucken von Waffen, die Farben der Uniformen, der Banner und des Blutes. Und die Menschen – die meisten längst tot. Sie traten aus meiner Erinnerung und gerieten auf allen Seiten in stumme Bewegung. Keine dieser Gestalten gehörte der Familie an, doch hatten sie mir ausnahmslos etwas bedeutet. Dennoch erschienen sie nicht nach bestimmten Regeln. Es spielten sich edle Taten ab, wie auch unrühmliche Ereignisse, es traten Feinde auf und Freunde – und keine dieser Personen beachtete mich in irgendeiner Weise. Sie alle waren in einer längst vergangenen Abfolge von Ereignissen gefangen. Daraufhin begann ich mir Gedanken zu machen über die Beschaffenheit der Welt, durch die ich ritt. Handelte es sich um eine irgendwie verwässerte Version von Tir-na Nog´th, belebt durch eine für den Geist empfängliche Substanz, die mir jenes »Dies-ist-Ihr-Leben«-Panorama entlockte und ringsum projizierte? Oder begann ich nur Halluzinationen zu erleben? Ich war müde, beunruhigt, verängstigt und bewegte mich auf einem Weg, der auf eine monotone, sanfte Weise die Sinne anregte, auf eine Weise, die zur Verträumtheit führte . . . Ich erkannte nun sogar, daß ich schon vor längerer Zeit die Kontrolle über die Schatten verloren hatte und mich inzwischen lediglich linear durch diese Landschaft bewegte, gefangen in einer Art veräußerlichtem Narzismus . . . Mir ging dabei auf, daß ich anhalten und ausruhen und vielleicht sogar ein wenig schlafen mußte, obwohl so etwas an diesem Ort gefährlich werden konnte. Ich mußte mich losreißen und zu einem ruhigeren, verlasseneren Ort vorzudringen versuchen . . .

Ich zerrte an meiner Umgebung. Ich verdrehte die Dinge. Ich brach durch.

Wenig später ritt ich durch ein rauhes Berggebiet und erreichte nach kurzer Zeit die Höhle, die ich brauchte.

Wir ritten hinein, und ich versorgte Star. Ich aß und trank eben genug, um meinem Hunger die Schärfe zu nehmen. Ich verzichtete darauf, ein Feuer anzuzünden. Ich wickelte mich in meinen Umhang und eine Decke. Grayswandir hielt ich in der Rechten. Ich legte mich mit dem Gesicht zur Dunkelheit vor dem Höhleneingang.

Mir war ein wenig übel. Brand war ein Lügner, das wußte ich; trotzdem machten mir seine Worte zu schaffen.

Aber ich hatte noch nie Mühe gehabt, Schlaf zu finden. So schloß ich die Augen und war schnell versunken.

5

Mich weckte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Vielleicht war es auch ein Geräusch. Was auch immer, ich war plötzlich hellwach und wußte, es befand sich jemand in der Nähe. Ich verkrampfte die Finger um Grayswandirs Griff und öffnete die Augen. Ansonsten bewegte ich mich nicht.

Ein weicher Schein wie von einem Mond drang durch den Höhleneingang. Einen Schritt innerhalb der Höhle stand eine Gestalt, möglicherweise ein Mensch. Die Beleuchtung verriet mir nicht, ob er mir das Gesicht zugewandt hatte oder etwa nach draußen blickte. Im nächsten Augenblick machte die Erscheinung einen Schritt in meine Richtung.