»Ich will mich nicht noch einmal entschuldigen«, sagte mein Gegenüber, »und auch keine Erklärungen anbieten. Wir beide wissen, daß hier kein Mißverständnis vorliegt. Aber du hast das Recht auf deiner Seite, das liegt auf der Hand.« Er grinste und blinzelte mir zu. »Ich bin also auch dafür, die Sache zu begraben. Wir werden nicht hungern. Es gibt eben heute abend keine Mahlzeit. Du trägst da einen hübschen Edelstein. Erzählst du mir davon?«
»Ein Stein, weiter nichts«, sagte ich.
Das Tanzen ging weiter. Die Stimmen wurden lauter. Ich leerte meinen Krug, und er schenkte nach. Das Feuer zuckte. Die nächtliche Kälte wich aus meinen Knochen.
»Gemütliches Plätzchen habt ihr hier«, bemerkte ich.
»Das kann man wohl sagen. Dient uns seit undenklichen Zeiten. Sollen wir dich mal herumführen?«
»Vielen Dank, nein.«
»Das dachte ich mir, doch es war meine Pflicht als Gastgeber, dir das Angebot zu machen. Wenn du willst, kannst du auch gern mittanzen.«
Ich schüttelte den Kopf und lachte. Der Gedanke, mich an diesem Ort zu vergnügen, brachte mir Szenen aus Swift´schen Erzählungen in Erinnerung.
»Trotzdem vielen Dank.«
Er zog eine Tonpfeife aus der Tasche und begann sie zu stopfen. Ich säuberte mein Rauchutensil und tat es ihm nach. Ich hatte das Gefühl, daß die Gefahr vorüber war. Er war ein freundlicher kleiner Bursche, und die anderen kamen mir mit ihrer Musik und ihrem Gehopse recht harmlos vor.
Und dort . . . ich kannte die Geschichten von einem anderen Ort, weit, weit von hier . . . das Erwachen am Morgen, nackt auf einem Feld, dieser Saal spurlos verschwunden . . . ich wußte davon . . . Trotzdem . . .
Ein paar Schlucke Bier kamen mir ungefährlich vor. Der Alkohol begann mich zu wärmen, und nach den lähmenden Strapazen des Höllenritts klang das Fiepen der Flöten und das Klagen der Geigen sehr angenehm. Ich lehnte mich zurück und blies Rauch in die Höhe. Ich beobachtete die Tanzenden.
Der kleine Mann redete unentwegt. Alle übrigen beachteten mich nicht. Gut. Ich hörte phantastische Geschichten über Ritter und Kriege und Schätze. Obwohl ich nur mit halbem Ohr hinhörte, zog mich die Geschichte in ihren Bann, entlockte mir sogar einige Lacher. In mir aber warnte mich mein klügeres, unangenehmeres zweites Ich: Los, Corwin, du hast genug gehabt. Es wird Zeit, daß du verschwindest . . .
Doch auf wundersame Weise schien sich mein Krug wieder gefüllt zu haben, und ich ergriff ihn und trank daraus. Noch ein Krug – ein letzter – kann nicht schaden.
Nein, sagte mein anderes Ich, er überzieht dich mit einem Zauber. Spürst du das nicht?
Ich nahm nicht an, daß irgendein hergelaufener Zwerg mich unter den Tisch trinken konnte, aber ich war müde und hatte nicht viel gegessen. Vielleicht wäre es ratsam . . .
Ich spürte, wie mir der Kopf auf die Brust sank. Ich legte meine Pfeife auf den Tisch. Mit jedem Lidschlag schien es länger zu dauern, bis ich die Augen wieder öffnen konnte. Es war mir angenehm warm, und in meinen erschöpften Muskeln machte sich ein Hauch köstlicher Betäubung breit.
Zweimal erwischte ich mich dabei, wie mir der Kopf herabsank. Ich versuchte, an meine Mission zu denken, an meine persönliche Sicherheit, an Star . . . Ich murmelte etwas, hinter geschlossenen Lidern noch vage bei Bewußtsein. Es wäre so angenehm, noch eine halbe Minute länger in diesem Zustand zu verweilen . . .
Die melodische Stimme des kleinen Mannes bekam etwas Monotones, sank zu einem Säuseln herab. Es kam gar nicht mehr darauf an, was er eigentlich sag. . .
Star wieherte.
Ich fuhr kerzengerade hoch und riß die Augen auf: die Szene vor mir vertrieb meine Müdigkeit sofort.
Die Musiker spielten weiter, doch inzwischen tanzte niemand mehr. Alle Festteilnehmer näherten sich lautlos. Jeder hielt etwas in der Hand – Flasche, Knüppel oder Klinge. Der Mann mit der Lederschürze schwenkte seine Schlächteraxt. Mein Gastgeber hatte soeben einen kräftigen Stab ergriffen, der unweit an der Wand gelehnt hatte. Mehrere der Burschen hielten kleine Möbelstücke in den Händen. Aus den Höhlen nahe der Feuerstelle waren weitere Gestalten aufgetaucht, mit Steinen und Knüppeln bewaffnet. Die Atmosphäre der Fröhlichkeit war verflogen, die Gesichter waren entweder ausdruckslos, voller Haß oder zu einem unangenehmen Lächeln verzerrt.
Mein Zorn kehrte zurück, doch es war nicht das rotglühende Aufbrausen, das mich vorhin durchfahren hatte. Ein Blick auf die Horde genügte: mit den Burschen wollte ich mich nicht einlassen. Vorsicht dämpfte meine Reaktion. Ich hatte eine Mission. Ich durfte mich hier nicht in Gefahr bringen, wenn mir ein anderer Ausweg einfiel. Auf keinen Fall kam ich hier aber nur mit Worten heraus.
Ich atmete tief ein. Offenbar machte man Anstalten, auf mich loszustürmen, und ich dachte plötzlich an Brand und Benedict in Tir-ne Nog´th, und Brand war nicht einmal voll auf das Juwel eingestimmt. Wieder schenkte mir der feurige Stein neue Kräfte, ich hielt mich bereit, um mich zu schlagen, sollte es dazu kommen. Doch zuerst wollte ich sehen, wie es um die Nerven dieser tückischen Burschen bestellt war.
Da ich nicht genau wußte, wie Brand es gemacht hatte, griff ich lediglich durch das Juwel hindurch, wie ich es tat, wenn ich das Wetter manipulierte. Seltsamerweise spielte die Musik noch, als sei das Vorhaben der kleinen Leute lediglich eine grausige Fortsetzung ihres Tanzes.
»Steht still!« sagte ich laut und ließ diesem Befehl meinen Willen folgen. Gleichzeitig richtete ich mich auf. »Erstarrt! Werdet zu Statuen. Ihr alle!«
In und auf meiner Brust spürte ich ein heftiges Pulsieren. Ich fühlte, wie die roten Kräfte auswärts wogten, genau wie bei den früheren Gelegenheiten, da ich das Juwel einsetzte.
Meine kleinwüchsigen Angreifer verharrten. Die vordersten standen stocksteif, während es bei den Leuten weiter hinten noch geringfügige Bewegungen gab. Dann stießen die Flöten einen schrillen Mißton aus, und die Geigen schwiegen. Noch immer wußte ich nicht, ob ich durchgekommen war oder ob sie aus eigener Entscheidung innehielten, weil ich aufgestanden war.
Dann spürte ich die mächtigen Wogen der Kraft, die mir entströmten und die die gesamte Versammlung in eine enger werdende Matrix hüllten. Ich spürte, daß sie alle in diesem Ausdruck meines Willens gefangen waren, und hob die Hand und löste Stars Zügel.
Ich hielt die Männer mit einer Konzentration von einer Reinheit, wie ich sie auch bei meinen Reisen durch die Schatten anwandte, und führte Star zur Tür. Einen letzten Blick warf ich auf die erstarrte Gruppe und stemmte dann Star vor mir her die Treppe hoch. Ihm folgend, lauschte ich, doch von unten war von aufflackernder Aktivität nichts zu hören.
Als wir ins Freie kamen, malte sich im Osten bereits die bleiche Dämmerung. In den Sattel steigend, hörte ich zu meiner Verblüffung das ferne Fiedeln von Geigen. Sekunden später fielen die Flöten in das Lied ein. Anscheinend war es für diese Leute ohne Belang, ob sie ihren Plan gegen mich ausführen konnten oder nicht; auf jeden Fall ging das Fest weiter.
Ich zog Star nach Süden herum. In diesem Augenblick rief mich eine Gestalt aus dem Eingang an, den ich eben verlassen hatte. Es war der Anführer, mit dem ich getrunken hatte. Ich zog die Zügel an, um ihn besser zu verstehen.
»Und wohin reitest du?« rief er mir nach.
Warum nicht?
»Ans Ende der Erde!« rief ich zurück.
Er begann auf der zerschmetterten Tür zu tanzen.
»Leb wohl, Corwin!« rief er.
Ich winkte ihm zu. Warum auch nicht? Manchmal fällt es verdammt schwer, den Tänzer vom Tanz zu unterscheiden.
6
Ich war noch keine tausend Meter in die Richtung geritten, die einmal Süden gewesen war, als plötzlich alles aufhörte – Boden, Himmel, Berge. Ich sah mich einer Fläche weißen Lichts gegenüber. Bei diesem Anblick fielen mir der Fremde in der Höhle und seine Worte wieder ein. Er war der Meinung gewesen, daß das seltsame Unwetter die Welt auslösche, daß die Erscheinung der Prophezeiung einer lokalen apokalyptischen Legende entspräche. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht hatte es sich um die Woge des Chaos gehandelt, von der Brand gesprochen hatte, in diese Richtung schwenkend, vorbeischwemmend, vernichtend, alles auflösend. Dieses Ende des Tals war allerdings unberührt geblieben. Warum?