Dann erinnerte ich mich an mein Vorgehen beim Verlassen der Höhle. Ich hatte die Macht des Juwels eingesetzt, um das Unwetter aus diesem Gebiet fernzuhalten. Was war, wenn es sich tatsächlich um mehr als ein normales Unwetter gehandelt hatte? Nicht zum erstenmal hätte sich das Muster gegen das Chaos durchgesetzt. War dieses Tal, in dem ich den Regen gestoppt hatte, inzwischen nur noch eine kleine Insel in einem ganzen Ozean des Chaos? Und wenn dem so war, wie sollte ich weiterkommen?
Ich blickte nach Osten, von wo sich der Tag aufhellte. Keine eben aufgegangene Sonne stand am Himmel, dafür eine ziemlich große, grellblanke Krone, ein schimmerndes Schwert in ihrer Mitte. Irgendwo sang ein Vogel, Töne, die beinahe wie Gelächter klangen. Ich beugte mich vor und barg das Gesicht in den Händen. Wahnsinn . . .
Nein! Ich war schon oft in unheimlichen Schatten gewesen. Je weiter man kam, desto seltsamer wurden sie zuweilen. Bis . . . Was war mir an jenem Abend in Tir-na Nog´th durch den Kopf gegangen?
Zwei Zeilen aus einer Erzählung Isak Dinesens kamen mir in den Sinn, Zeilen, die mich soweit beunruhigt hatten, daß ich sie mir einprägen mußte, trotz der Tatsache, daß ich damals als Carl Corey gereist war: ». . . Nur wenige Menschen können von sich behaupten, von dem Glauben frei zu sein, daß die Welt, die sie ringsum sehen, in Wirklichkeit das Produkt ihrer eigenen Phantasie ist. Sind wir folglich zufrieden damit und stolz darauf?« Eine Zusammenfassung des liebsten Zeitvertreibs unserer Familie in Sachen Philosophie. Erschaffen wir die Schattenwelten? Oder sind sie bereits vorhanden, unabhängig von uns, und erwarten unser Kommen? Oder gibt es da eine bisher übersehene Mitte? Ist das Ganze eher eine Frage des Mehr oder Weniger als des Entweder-Oder? Ein trockenes Lachen stieg mir in der Kehle auf, als ich erkannte, daß ich die Antwort vielleicht nie finden würde. Und doch hatte ich mir schon in jener Nacht überlegt, daß es einen Ort geben mußte, einen Ort, da das Ich sein Ende findet, einen Ort, da Solipsismen keine plausible Erklärung mehr sind für die Örtlichkeiten, die wir aufsuchen, für die Dinge, die wir dort finden. Die Existenz dieses Ortes, dieser Dinge, sagt uns, daß zumindest hier ein Unterschied besteht; und wenn es diesen Unterschied hier gibt, dann wirkt er vielleicht auch zurück durch unsere Schatten, tränkt sie mit dem Nicht-Ich und drängt unsere Egos damit auf eine kleinere Bühne zurück. Ich spürte, daß dies ein solcher Ort war, ein Ort, da das »Sind wir folglich zufrieden damit und stolz darauf?« nicht gültig war, so wie das zerstörte Tal von Garnath und mein Fluch unweit der Heimat. Was immer ich auch letztlich annehmen mochte, ich spürte, daß ich im Begriff stand, das Land des totalen Nicht-Ichs zu betreten. Mein Einfluß über die Schatten mochte an diesem Punkt sein Ende finden.
Ich richtete mich wieder auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Helligkeit. Ich gab Star ein Kommando und schüttelte die Zügel. Wir ritten weiter.
Einen Augenblick lang fühlte es sich so an, als bewegten wir uns im Nebel. Nur war es erheblich heller, und ringsum war kein Laut zu hören. Dann begannen wir zu fallen.
Zu fallen oder zu treiben. Nach dem ersten Erschrecken war das kaum genauer zu sagen. Zuerst kam ein Gefühl des Höhenverlustes, vielleicht verstärkt durch den Umstand, daß Star in Panik geriet. Doch seine auskeilenden Hufe fanden keinen Halt, und nach einiger Zeit bewegte sich Star überhaupt nicht mehr, bis auf sein Zittern und die schweren Atemzüge.
Ich hielt die Zügel mit der rechten Hand und umklammerte das Juwel mit der linken. Ich weiß nicht, welche Befehle mein Wille ausstrahlte oder wie ich das Juwel zum Wirken brachte; mir war nur klar, daß ich diesen Ort grellen Nichts durchqueren wollte, um meinen Weg wiederzufinden und an das Ziel meiner Expedition zu gelangen.
Ich verlor jedes Zeitgefühl. Ich hatte nicht mehr den Eindruck, daß wir stürzten. Kam ich überhaupt voran, oder schwebte ich nur auf der Stelle? Es gab keine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. War die Helligkeit noch immer nur Helligkeit? Und die tödliche Stille . . . Ich erschauderte. Hier mußten meine Sinne sogar noch mehr entbehren als in der Zeit meiner Blindheit in der alten Zelle. Hier gab es nichts – nicht das Huschen einer Ratte oder das Scharren meines Löffels gegen die Tür, keine Feuchtigkeit, keinen kühlen Lufthauch, keine Oberflächen. Ich schickte meine Gedanken weiter aus . . .
Ein Flackern.
Ich hatte den Eindruck, als wäre das Blickfeld zu meiner Rechten kurz verändert worden, doch so kurz, daß es beinahe nicht zu merken gewesen war. Ich schickte meine Empfindungen in diese Richtung, fühlte aber nichts.
Die Erscheinung war von flackernder Abruptheit gewesen, und ich wußte nicht, ob ich mich täuschte. Es mochte sich um eine Halluzination handeln.
Aber da schien es schon wieder zu passieren, diesmal links. Wie lang die dazwischenliegende Zeit war, wußte ich nicht zu sagen.
Dann hörte ich auch etwas – eine Art richtungsloses Stöhnen. Auch diese Wahrnehmung war nur sehr kurz.
Als nächstes – und zum erstenmal war ich mir meiner Sache sicher – erschien eine grauweiße Landschaft wie eine Mondoberfläche. Sie tauchte auf und verschwand wieder, nach etwa einer Sekunde, in einem kleinen Bereich meines Sehbereichs zur Linken. Star schnaubte.
Rechts erschien jetzt ein Wald – grau und weiß – herabstürzend, als passierten wir einander in unmöglichem Winkel. Ein sehr begrenztes Bild, weniger als zwei Sekunden lang zu sehen.
Dann Teile eines brennenden Gebäudes unter mir . . . farblos.
Fetzen von Heultönen schallten aus dem Himmel herab . . .
Ein gespenstischer Berg, eine Fackelprozession auf einem Serpentinenweg am mir zugewandten Hang . . .
Eine Frau, die an einem Baum hing, ein straffes Seil um den Hals, den Kopf zur Seite gedreht, die Hände auf dem Rücken gefesselt . . .
Auf dem Kopf stehende Berge, weiß; darunter schwarze Wolken . . .
Klick! Eine winzige Vibration, als hätten wir für kurze Zeit etwas Festes berührt – vielleicht Stars Hufe auf felsigem Grund. Und wieder verschwunden . . .
Ein Flackern.
Rollende Köpfe, tropfendes schwarzes Blut . . . Ein leises Lachen aus dem Nichts . . . Ein an die Wand genagelter Mann, mit dem Kopf nach unten . . .
Und wieder das weiße Licht, rollend und wogend.
Klick! Ein Flackern.
Einen Herzschlag lang bewegten wir uns auf einem Pfad unter fleckigem Himmel. In dem Augenblick, als die Erscheinung verschwand, griff ich durch das Juwel danach.
Klick! Ein Flackern. Klick! Grollen.
Ein felsiger Weg, der sich einem hohen Bergpaß entgegenwand . . . Noch immer monochrom, die Welt . . . Hinter mir ein Krachen wie Donner . . .
Ich drehte das Juwel wie einen Einstellknopf, als die Welt wieder zu verblassen begann. Sie kehrte zurück . . . Zwei, drei, vier . . . ich zählte die Hufschläge, Herzschläge gegen den knurrenden Hintergrund . . . sieben, acht, neun . . . die Welt wurde heller. Ich atmete tief ein und seufzte schwer. Die Luft war kalt.
Zwischen dem Donnern und seinen Echos hörte ich das Rauschen von Regen. Allerdings blieb ich davon unberührt.
Ich schaute zurück. Etwa hundert Meter hinter mir erstreckte sich eine mächtige Regenwand, hinter der ich nur sehr vage Bergkonturen wahrnehmen konnte. Ich schnalzte Star mit der Zunge zu, woraufhin er ein wenig schneller ausschritt, zu einem beinahe ebenen Stück Land emporsteigend, das zwischen zwei Gipfeln hindurchführte. Die Welt vor uns war noch unverändert, eine Studie in Weiß und Grau, der Himmel weiter vorn von dunklen und hellen Streifen verschmiert. Wir erreichten den Paß.