»Na schön«, sagte sie. »So wichtig ist es nicht. Und ich weiß alles über deine Mission. Inzwischen ist die auch nicht mehr so wichtig.«
»Oh? Ich muß gestehen, daß ich durchaus damit gerechnet hatte, du würdest mich zu einer kleinen Privatfeier einladen, die dazu führen mußte, daß ich irgendwo an einem einsamen Hügel allein herumirrte.« Sie lachte. »Und ich muß gestehen, daß ich die Absicht hatte, so vorzugehen, Corwin. Aber das ist vorbei.«
»Warum?«
Sie deutete auf die vorrückende Linie der Zerstörung.
»Es ist nicht mehr erforderlich, dich aufzuhalten. Ich schließe daraus, daß die Mächte des Chaos gesiegt haben. Niemand könnte das Vorrücken des Chaos noch aufhalten.«
Ich erschauderte, und sie füllte unsere Becher nach.
»Ich würde es aber trotzdem vorziehen, wenn du mich in einem solchen Augenblick nicht verließest«, fuhr sie fort. »In wenigen Stunden wird es hier sein. Wie könnte man diese Zeit besser zubringen als in der Gesellschaft des anderen? Wir brauchten ja nicht einmal in mein Zelt zu gehen.«
Ich neigte den Kopf, und sie rückte neben mich. Ach was! Eine Frau und eine Flasche – so hatte ich nach eigenem Bekunden mein Leben stets beenden wollen. Ich trank einen Schluck Wein. Wahrscheinlich hatte sie recht. Doch mußte ich an das Frauenwesen denken, das mich beim Verlassen Avalons auf der schwarzen Straße umgarnt hatte. Zuerst hatte ich ihr helfen wollen und war dann ihrem unnatürlichen Charme schnell erlegen – als dann ihre Maske fiel, mußte ich erkennen, daß sich nicht das geringste dahinter befand. Das hatte mir damals einen großen Schreck eingejagt. Aber schließlich hat jeder ein ganzes Regal voller Masken für verschiedene Anlässe – wenn man es mal nicht zu philosophisch betrachten will. Ich habe Psychologen oft dagegen wettern hören. Dennoch habe ich Menschen kennengelernt, die zunächst einen guten Eindruck machten, die ich dann aber zu hassen begann, als ich erfuhr, wie innerlich wirklich waren. Und manchmal glichen sie jenem Frauenwesen – es gab innerlich kaum etwas. So habe ich festgestellt, daß die Maske oft weitaus akzeptabler ist als ihre Alternative. Und . . . das Mädchen, das ich hier an mich drückte, mochte unter ihrem Äußeren ein Monstrum sein. Wahrscheinlich war sie das sogar. Trifft das nicht auf die meisten von uns zu? Wenn ich mich schon an diesem Punkt aufgeben wollte, gab es sicher unangenehmere Abgänge. Sie gefiel mir.
Ich leerte meinen Becher. Sie machte Anstalten, mir nachzuschenken, doch ich hielt ihre Hand fest.
Sie blickte zu mir auf. Ich lächelte.
»Beinahe hättest du mich herumbekommen«, sagte ich.
Dann schloß ich ihr mit vier Küssen die Augen, um den Zauber nicht zu zerstören, stand auf und bestieg Star.
»Leb wohl, Lady!«
Während das Unwetter ins Tal hinunterbrodelte, ritt ich weiter nach Süden. Vor mir erhoben sich neue Berge, und der Weg führte darauf zu. Der Himmel war noch immer schwarz und weiß gestreift, Linien, die sich jetzt aber ein wenig zu bewegen schienen. Alles in allem ergab sich daraus wie zuvor ein Zwielicht-Effekt, auch wenn in den schwarzen Zonen keine Sterne schimmerten. Noch immer der Wind, noch immer der süße Duft ringsum – und die Stille, die verdrehten Monolithen und das silbrige Blattwerk, unverändert taufeucht und funkelnd. Nebelfetzen wehten vor mir dahin. Ich versuchte, mit dem Stoff der Schatten zu arbeiten, doch es war schwer, und ich war müde. Nichts geschah. Ich holte mir Kraft aus dem Juwel und versuchte einen Teil davon an Star weiterzugeben. Wir kamen in gleichmäßigem Tempo voran, bis sich das Land endlich vor uns emporwellte und wir einem neuen Paß entgegenstiegen, zerklüfteter als der, durch den wir das Tal betreten hatten. Ich hielt inne und schaute zurück. Etwa ein Drittel des Tals lag inzwischen hinter dem schimmernden Schirm des vorrückenden Sturm-Gebildes. Ich dachte an Lady und ihren Teich und ihr Zelt. Kopfschüttelnd ritt ich weiter.
Im weiteren Verlauf des Passes wurde der Weg steiler, und wir kamen nur noch langsam voran. Die weißen Flüsse am Himmel nahmen eine rötliche Färbung an, die sich immer mehr vertiefte. Als ich den Durchgang erreichte, schien die ganze Welt mit Blut übergossen zu sein. In den breiten felsigen Boulevard einreitend, mußte ich gegen einen heftigen Wind angehen. Der Boden flachte etwas ab, trotzdem gewannen wir weiter an Höhe, und ich konnte noch nicht durch den Paß schauen.
Plötzlich prasselte etwas in den Felsen zu meiner Linken. Ich schaute in die Richtung, sah aber nichts. Ich tat die Erscheinung als fallenden Stein ab. Eine halbe Minute später bäumte sich Star unter mir auf, stieß ein schreckliches Wiehern aus, wandte sich ruckartig nach links und begann in diese Richtung zu sinken.
Ich sprang aus dem Sattel, und als wir beide zu Boden gingen, sah ich, daß aus Stars rechter Schulter ein Pfeil ragte. Ich rollte am Boden ab und blickte in die Richtung, aus der der Schuß gekommen sein mußte.
Eine Gestalt mit einer Armbrust stand auf einem Felsvorsprung rechts von mir, etwa zehn Meter über dem Paßweg. Sie war bereite damit beschäftigt, die Armbrust für einen zweiten Schuß zu spannen.
Ich wußte, ich kam nicht mehr rechtzeitig an den Mann heran. Ich suchte also nach einem handlichen Stein, fand am Fuße der Felswand hinter mir ein geeignetes Wurfgeschoß, wog es in der Hand und versuchte, mich nicht von meinem Zorn beeinflussen zu lassen. Meine Zielgenauigkeit wurde nicht beeinträchtigt, doch fiel der Wurf vielleicht etwas energischer aus als normal.
Der Stein traf ihn am linken Arm. Er stieß einen Schrei aus und ließ die Armbrust fallen. Die Waffe rutschte klappernd zwischen den Felsen herab und landete auf der anderen Seite des Weges, mir genau gegenüber. .
»Du Schweinehund!« brüllte ich. »Du hast mein Pferd auf dem Gewissen. Das kostet dich den Kopf!«
Ich überquerte den Pfad und suchte nach dem kürzesten Weg zu ihm hinauf. Ein Stück weiter links entdeckte ich eine Möglichkeit. Ich eilte hinüber und begann den Aufstieg. Gleich darauf waren Licht und Blickwinkel besser, und ich konnte mir den Mann genauer ansehen, der zusammengekrümmt dasaß und sich den Arm massierte. Es war Brand, dessen Haar im blutroten Licht noch flammender wirkte als normal. »Jetzt ist Schluß, Brand«, sagte ich. »Ich wünschte nur, jemand hätte das schon vor langer Zeit erledigt.«
Er richtete sich auf und blickte mir einen Augenblick lang beim Klettern zu. Er griff nicht nach seiner Klinge. Als ich die Spitze erreichte und noch etwa sieben Meter von ihm entfernt war, verschränkte er die Arme vor der Brust und senkte den Kopf.
Ich zog Grayswandir und trat vor. Ich gebe zu, ich wollte ihn umbringen, welche Körperhaltung er auch einnehmen mochte. Das rote Licht hatte sich noch verstärkt, so daß wir nun in Blut getaucht zu sein schienen. Der Wind umtobte uns heulend, und aus dem Tal unter uns grollte Donner.
Plötzlich verblaßte Brand. Seine Umrisse verschwammen, und als ich die Stelle erreichte, an der er gestanden hatte, war er verschwunden.
Fluchend verharrte ich einen Augenblick lang und dachte an die Gerüchte, wonach er irgendwie in einen lebendigen Trumpf verwandelt worden war und sich innerhalb kürzester Zeit überall hinversetzen konnte.
Von unten war ein Geräusch zu hören . . .
Ich eilte zum Rand und blickte hinab. Star strampelte noch immer mit den Hufen und prustete blutigen Schaum. Ein herzzerreißender Anblick. Aber nicht nur das bekümmerte mich.
Brand stand unter mir. Er hatte die Armbrust wieder an sich gebracht und bereitete einen weiteren Schuß vor.
Ich sah mich nach einem Stein um, doch es war keiner in Reichweite. Dann entdeckte ich ein Wurfgeschoß in der Richtung, aus der ich gekommen war. Ich hastete dorthin, steckte die Klinge fort und hievte den Stein hoch, der etwa so groß war wie eine Wassermelone. Ich kehrte damit an den Rand zurück und suchte Brand.
Er war nicht zu sehen.
Plötzlich kam ich mir sehr ungeschützt vor. Er konnte sich an jede günstige Stelle versetzt haben und bereits auf mich zielen. Ich ließ mich zu Boden fallen, wobei ich über meinen Stein stürzte. Gleich darauf hörte ich den Pfeil rechts von mir auftreffen. Dem Laut folgte Brands amüsiertes Lachen.