»Wenn ich das nur wüßte!« antwortete er. »Schau doch selbst! Allerdings kann niemand hinein.«
Er wich zur Seite, und ich machte noch einen Schritt vorwärts. Und einen zweiten. Und mehr nicht. Es war, als stemmte ich mich gegen eine geringfügig nachgebende, aber völlig unsichtbare Mauer. Jenseits des Hindernisses spielte sich eine Szene ab, die meine Erinnerungen und Gefühle in Aufruhr brachte. Die Angst packte mich im Genick und lahmte meine Hände – und das war keine Kleinigkeit.
Lächelnd hielt Martin einen Trumpf in der linken Hand, vor sich Benedict, der anscheinend eben erst gerufen worden war. Ganz in der Nähe, auf dem Podest des Throns, stand ein Mädchen mit abgewandtem Gesicht. Die beiden Männer schienen miteinander zu sprechen, aber ich konnte die Worte nicht hören.
Endlich wandte Benedict sich um und sprach offenbar zu dem Mädchen. Nach einiger Zeit schien sie ihm zu antworten. Martin begab sich auf ihre linke Seite. Während sie etwas sagte, erstieg Benedict das Thronpodest. Nun konnte ich ihr Gesicht erkennen. Das Gespräch setzte sich fort.
»Das Mädchen kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Gérard, der vorgetreten war und nun neben mir stand.
»Mag sein, daß du sie kurz gesehen hast, als sie an uns vorbeiritt«, sagte ich. »Es war an dem Tag, als Eric starb. Es ist Dara.«
Ich hörte, wie ihm der Atem stockte.
»Dara!« rief er. »Dann hast du . . .« Seine Stimme erstarb.
»Ich habe nicht gelogen«, sagte ich. »Es gibt sie wirklich.«
»Martin!« rief Random, der rechts neben mir auftauchte. »Martin! Was geht da vor?«
Er erhielt keine Antwort.
»Ich glaube, er kann dich gar nicht hören«, meinte Gérard. »Diese Barriere scheint uns völlig zu trennen.«
Randoms Hände stießen gegen etwas Unsichtbares. Er schob mit voller Kraft.
»Probieren wir es alle mal«, sagte er.
Ich versuchte es also noch einmal, und auch Gérard stemmte sich mit ganzem Gewicht gegen die unsichtbare Mauer.
Als wir uns eine halbe Minute lang vergeblich bemüht hatten, trat ich zurück. »Es hat keinen Sinn«, sagte ich. »Wir bekommen das Ding nicht aus dem Weg.«
»Was ist das nur?« fragte Random aufgebracht. »Was hält uns auf . . .?«
Ich hatte sofort eine gewisse Vorstellung gehabt von dem, was da vorging – eine Ahnung, die sich von einem starken Gefühl des déjà vu herleitete. Jetzt allerdings . . . jetzt krampfte sich meine Hand um die Schwertscheide, um sicher zu sein, daß Grayswandir noch an meiner Hüfte hing.
Die Waffe war noch vorhanden.
Wie ließ sich aber das Auftauchen meiner auffälligen Klinge erklären, deren kunstvolle Ornamente vor aller Augen schimmerten, eine Klinge, die urplötzlich in der Luft erschienen war und dort nun ohne Stütze verharrte, die Spitze auf Daras Hals gerichtet?
Eine Erklärung hatte ich nicht.
Die Szene hatte allerdings eine zu große Ähnlichkeit mit den nächtlichen Ereignissen in Tir-na Nog´th, der Traumstadt am Himmel, als daß es sich um einen Zufall handeln konnte. Es fehlte das ganze Drumherum – die Dunkelheit, die Verwirrung, die dichten Schatten, die Gefühlsstürme, die mich geschüttelt hatten – und doch war die Szene ungefähr so bereitet wie in jener Nacht. Es bestand eine große Ähnlichkeit, wenn auch keine hundertprozentige Übereinstimmung. Benedicts Haltung sah irgendwie anders aus – aus größerer Entfernung bildete sein Körper einen anderen Winkel. Ich konnte Dara die Worte nicht von den Lippen ablesen, fragte mich aber, ob sie dieselben seltsamen Fragen stellte. Ich nahm es nicht an. Das Tableau – der erlebten Szene ähnlich, aber auch wieder nicht – war vermutlich am anderen Ende – wenn es überhaupt eine Verbindung gab – durch die Einflüsse gefärbt worden, die Tir-na Nog´ths Kräfte damals auf meinen Geist gehabt hatten.
»Corwin«, sagte Random, »was da vor ihr hängt, sieht mir sehr nach Grayswandir aus.«
»Kann man wohl sagen«, gab ich zurück. »Aber du siehst selbst, daß ich meine Klinge bei mir habe.«
»Es gibt doch keine zweite Waffe dieser Art . . . oder? Weißt du, was da vor sich geht?«
»Ich habe allmählich das Gefühl, als könnte ich es wissen«, antwortete ich. »Was es auch ist, ich kann es jedenfalls nicht aufhalten.«
Plötzlich zuckte Benedicts Klinge aus der Scheide und bekämpfte die andere Waffe, die der meinen ähnelte. Im nächsten Augenblick focht er gegen einen unsichtbaren Gegner.
»Zeig´s ihm, Benedict!« rief Random.
»Sinnlos«, meinte ich. »Gleich wird er entwaffnet.«
»Woher weißt du das?« wollte Gérard wissen.
»Irgendwie bin ich das, der da drinnen gegen Benedict kämpft«, entgegnete ich. »Vor uns sehen wir die andere Seite meines Traums in Tir-na Nog´th. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, doch es ist der Preis dafür, daß Vater das Juwel zurückbekommen hat.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe auch keine Ahnung, wie so etwas möglich ist«, sagte ich. »Auf jeden Fall können wir erst eintreten, wenn zwei Dinge aus dem Thronsaal verschwunden sind.«
»Welche beiden Dinge?«
»Paß nur auf!«
Benedict hatte das Schwert in die rechte Hand befördert, und seine schimmernde Prothese zuckte vor und suchte sich ein unsichtbares Ziel. Die Klingen parierten die Hiebe der anderen, gingen überkreuz und preßten gegeneinander, wobei die Spitzen langsam zur Decke emporstiegen. Benedicts rechte Hand krampfte sich immer mehr zu.
Plötzlich kam die Grayswandir-Klinge frei und bewegte sich an der anderen vorbei. Sie richtete einen gewaltigen Hieb auf Benedicts rechten Arm, auf den Übergang zwischen Prothese und Armstumpf. Im nächsten Augenblick drehte sich Benedict herum, und mehrere Sekunden lang konnten wir nicht erkennen, was da geschah.
Endlich hatten wir wieder freie Sicht: Benedict sank im Drehen auf die Knie. Er umklammerte seinen Armstumpf. Der mechanische Arm mit der Hand hing nahe Grayswandir in der Luft. Er entfernte sich von Benedict und verlor dabei an Höhe, wie die Klinge. Als beide den Boden erreichten, prallten sie nicht auf, sondern glitten hindurch und waren gleich darauf nicht mehr zu sehen.
Ich fiel nach vorn, gewann mein Gleichgewicht wieder und eilte vor. Das Hindernis war verschwunden.
Martin und Dara waren vor uns bei Benedict. Als Gérard, Random und ich das Podest erstiegen, hatte Dara einen Streifen von ihrem Umhang abgerissen und verband damit Benedicts Armstumpf.
Random packte Martin an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. »Was ist geschehen?« fragte er.
»Dara . . . Dara wollte Amber sehen«, antwortete er. »Da ich jetzt hier lebe, erklärte ich mich einverstanden, sie hindurchzuholen und herumzuführen. Dann . . .«
»Hindurchzuholen? Du meinst, durch einen Trumpf?«
»Nun . . . ja.«
»Deinen oder ihren?«
Martin biß sich auf die Unterlippe.
»Also, weißt du . . .«
»Gib mir die Karten«, forderte Random und riß Martin das Behältnis aus dem Gürtel. Er öffnete es und begann die Karten durchzublättern.
»Dann kam ich auf den Gedanken, Benedict zu verständigen, da er sich für sie interessierte«, fuhr Martin fort. »Benedict wollte kommen und sehen . . .«
»Zum Teufel!« rief Random. »Hier haben wir einen Trumpf von dir, einen von ihr und einen von einem Kerl, den ich noch nie gesehen habe! Woher hast du die?«
»Zeig mal!« sagte ich.
Er reichte mir die drei Karten.
»Nun?« fragte er. »Hast du sie von Brand? Meines Wissens ist er heutzutage der einzige, der noch Trümpfe machen kann.«
»Ich will mit Brand nichts zu tun haben«, antwortete Martin, »außer ihn umzubringen!«
Doch ich wußte bereits, daß diese Karten nicht von Brand stammten. Sie entsprachen nicht seinem Stil. Die Art der Gestaltung war mir völlig unbekannt. Doch noch mehr beschäftigten mich die Gesichtszüge der dritten Person, des Mannes, von dem Random behauptete, er habe ihn nie zuvor gesehen. Ich aber kannte ihn. Vor mir sah ich das Gesicht des Jünglings, der sich mir vor den Höfen des Chaos mit einer Armbrust in den Weg gestellt hatte, der mich erkannt hatte und daraufhin nicht mehr schießen wollte.