»Wer vermag das zu sagen. Ich jedenfalls nicht. Ich bin nur ein wachsender Turm intelligenten Holzes. Mein Stock mag dir jedoch Trost spenden. Eingepflanzt vermag er in seltsamen Gegenden Wurzeln zu schlagen. Vielleicht aber auch nicht. Wer weiß das schon? Nimm ihn jedenfalls mit, Sohn Oberons, an jenen Ort, zu dem du unterwegs bist. Ich spüre ein Unwetter nahen. Leb wohl!«
»Leb wohl«, sagte ich. »Und danke.«
Ich machte kehrt und folgte dem Weg in den dichter werdenden Nebel hinab. Allmählich ließ der rosa Schimmer nach. Ich schüttelte beim Gedanken an den Baum den Kopf, doch schon auf den nächsten paar hundert Metern wurde der Weg so uneben, daß mir der Stock gute Dienste leistete.
Dann klarte es etwas auf. Felsen, ein stiller See, etliche traurige kleine Bäume, mit Moosstreifen bekränzt, ein Fäulnisgeruch . . . ich eilte vorbei. Von einem der Bäume aus beobachtete mich ein dunkelgefiederter Vogel.
Während ich ihn noch anblickte, stieg das Tier auf und flatterte gemächlich auf mich zu. Da die jüngsten Ereignisse mich etwas vogelscheu gemacht hatten, duckte ich mich, als das Tier meinen Kopf umkreiste. Schließlich landete es aber vor mir auf dem Weg, legte den Kopf auf die Seite und betrachtete mich mit dem linken Auge.
»Ja«, verkündete der Vogel. »Du bist es.«
»Wer?« fragte ich.
»Der Mann, den ich begleiten werde. Du hast doch nichts dagegen, daß ein Vogel des bösen Omens dir folgt, oder, Corwin?«
Ich lachte. »Im ersten Augenblick will mir nicht einfallen, wie ich dich daran hindern sollte. Wie kommt es, daß du meinen Namen kennst?«
»Ich habe seit dem Anbeginn der Zeit auf dich gewartet, Corwin.«
»Das muß aber recht langweilig gewesen sein.«
»So langweilig ist das nicht gewesen. Zeit ist das, was man daraus macht.«
Ich setzte meinen Marsch fort. Ich ging an dem Vogel vorbei und blieb nicht wieder stehen. Sekunden später zuckte er an mir vorüber und landete rechts von mir auf einem Felsen.
»Ich heiße Hugi«, sagte er. »Wie ich sehe, trägst du ein Stück des alten Ygg bei dir.«
»Des alten Ygg?«
»Der eingebildete alte Baum, der da am Eingang zu diesem Ort steht und es nicht zuläßt, daß man sich auf seinen Ästen ausruht. Bestimmt hat er ordentlich geschrien, als du das Ding da abgeschlagen hast.« Der Vogel lachte schrill.
»Er hat sich sehr zurückgehalten.«
»Und ob! Aber schließlich blieb ihm nicht viel übrig, nachdem es bereits geschehen war. Wirst schon nichts davon haben.«
»Das Ding ist mir sehr nützlich«, widersprach ich und schwang den Stock in seine Richtung.
Flatternd wich er zurück. »He! Das war nicht komisch!«
Ich lachte. »Ich dachte aber, es wäre komisch.«
Ich ging an ihm vorbei.
Endlos führte der Weg durch eine Sumpfzone. Gelegentliche Windstöße ließen den Nebel aufreißen und zeigten mir den weiteren Weg. Von Zeit zu Zeit glaubte ich Musikfetzen zu hören – ich wußte nicht, aus welcher Richtung –, eine langsame und irgendwie feierliche Melodie, die von Instrumenten mit Stahlsaiten gespielt wurde.
Plötzlich wurde ich von links angerufen: »Fremder! Bleib stehen und sieh mich an!«
Irritiert kam ich der Aufforderung nach. In dem verdammten Nebel sah ich aber kaum die Hand vor Augen.
»Hallo!« rief ich. »Wo bist du?«
In diesem Augenblick öffneten sich die Nebelbänke einen Augenblick lang, und ich erblickte einen riesigen Kopf, dessen Augen in gleicher Höhe waren wie die meinen. Sie schienen zu einem Riesenkörper zu gehören, der bis zu den Schultern im Morast versunken war. Der Kopf war kahl, die Haut hell wie Milch und von felsiger Struktur. Im Kontrast dazu wirkten die Augen vermutlich dunkler, als sie es wirklich waren.
»Jetzt sehe ich dich«, sagte ich. »Du scheinst in der Klemme zu stecken. Bekommst du die Arme frei?«
»Wenn ich mir große Mühe gebe.«
»Ich will mich mal umsehen, ob ich etwas finde, an dem du dich festhalten kannst. Dort, das müßte eigentlich gehen.«
»Nein. Nicht nötig.«
»Möchtest du denn nicht raus? Ich dachte, du hättest deswegen gerufen.«
»O nein. Ich wollte nur, daß du mich ansiehst.«
Ich trat näher und starrte das Wesen durch den dichter werdenden Nebel an.
»Na schön«, sagte ich dann. »Ich habe dich angesehen.«
»Spürst du meine Qual?«
»Nicht sonderlich, wenn du dir nicht selbst helfen willst oder die Hilfe anderer ablehnst.«
»Was würde es mir nützen, wenn ich mich befreite?«
»Das ist deine Frage. Beantworte sie selbst.«
Ich wandte mich zum Gehen.
»Warte! Wohin reist du?«
»In den Süden. Ich soll dort in einem Moralstück auftreten.«
In diesem Augenblick flog Hugi aus dem Nebel herbei und landete auf dem großen Kopf. Er pickte daran und lachte.
»Verschwende deine Zeit nicht, Corwin. Hier ist weniger, als uns das Auge vorgaukelt«, sagte er.
Die riesigen Lippen formten meinen Namen. »Ist er es wirklich?«
»Er ist es, sei beruhigt«, erwiderte Hugi.
»Hör zu, Corwin!« sagte der eingesunkene Riese. »Du willst versuchen, das Chaos aufzuhalten, nicht wahr?«
»Ja.«
»Laß es sein. Es lohnt sich nicht. Ich möchte, daß alles zu Ende geht. Ich wünsche mir eine Befreiung aus diesem Zustand.«
»Ich habe dir bereits angeboten, dir herauszuhelfen. Du hast abgelehnt.«
»Um die Art Befreiung geht es mir nicht. Ich ersehne das absolute Ende.«
»Das ist kein Problem«, gab ich zurück. »Tauch den Kopf unter und atme tief ein.«
»Ich wünsche mir nicht meinen persönlichen Tod, sondern das Ende des ganzen törichten Spiels.«
»Es gibt sicher noch andere Leute auf der Welt, die in dieser Sache lieber selbst entscheiden möchten.«
»Für sie soll es auch vorbei sein. Es wird die Zeit kommen, da sie in meiner Lage sind und so fühlen wie ich.«
»Dann haben sie dieselbe Möglichkeit. Guten Tag.«
Ich machte kehrt und ging weiter.
»Du auch!« rief er mir nach.
Nach einiger Zeit holte Hugi mich ein und setzte sich auf das Ende meines Wanderstabes.
»Ganz angenehm, auf Yggs Ast zu sitzen, wo er jetzt nicht mehr – hedal«
Hugi sprang in die Luft und beschrieb einen Kreis.
»Hat mir den Fuß verbrannt! Wie war ihm das nur möglich?« rief er.
Ich lachte. »Keine Ahnung.«
Er flatterte noch ein wenig und näherte sich dann meiner rechten Schulter.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich dort ausruhe?«
»Nur zu.«
»Vielen Dank.« Er machte es sich gemütlich. »Der große Kopf ist in Wahrheit ein geistiger Problemfall.«
Ich zuckte die Achseln, und er breitete die Flügel aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
»Er versucht etwas zu greifen«, fuhr er fort, »geht dabei aber falsch vor. Er macht nämlich für seine eigenen Schwächen die Welt verantwortlich.«
»Stimmt nicht. Er wollte nicht einmal zugreifen, um aus dem Morast herauszukommen«, widersprach ich.
»Ich meinte das eher philosophisch.«
»Ach, die Art Morast. Das ist schade.«
»Das ganze Problem liegt im Ich, im Ego und seiner Verwicklung mit der Welt einerseits und dem Absoluten andererseits.«
»Ach, wirklich?«
»Ja. Weißt du, wir schlüpfen aus und treiben an der Oberfläche der Ereignisse dahin. Manchmal haben wir das Gefühl, die Dinge tatsächlich zu beeinflussen, und das spornt zum Streben an. Das aber ist ein großer Fehler, weil es Sehnsüchte weckt und ein falsches Ego erstehen läßt, während man sich damit begnügen sollte, einfach nur zu existieren. Darauf bauen sich weitere Wunschvorstellungen und neues Streben auf, und schon sitzt man in der Falle.«
»Im Morast?«
»Gewissermaßen. Man muß den Blick nur fest auf das Absolute richten und es lernen, die Halluzinationen, die Illusionen und das falsche Gefühl der Identität zu ignorieren, die einen als falsche Insel der Bewußtheit von allem anderen trennen.«
»Ich hatte auch einmal eine falsche Identität. Sie half mir sehr dabei, zu dem Absoluten zu werden, das ich heute bin – ich.«