Ich hatte den Eindruck, als befände ich mich in einer Luftblase auf dem Boden eines stürmischen Meeres. Wassermauern schlossen mich ein, dunkle Gestalten huschten vorbei. Es wollte mir scheinen, als dränge das gesamte Universum heran in dem Bestreben, mich zu zermalmen. Ich konzentrierte mich auf die rote Welt des Juwels. Links . . .
Die Kastanienblüten . . . Eine Tasse heißen Kakaos in einem Straßen-Café . . . Ein Konzert in den Gärten der Tuilerien, die Töne in der sonnenhellen Luft perlend aufsteigend . . . Berlin in den Zwanziger Jahren, der Pazifik in den Dreißigern – auch dort hatte es Freuden gegeben, doch von anderer Art. Es mochte sich nicht um die wahre Vergangenheit handeln, doch um Bilder der Vergangenheit, die herbeieilen, um uns, Mensch oder Nation, später zu trösten oder zu quälen. Egal. Über den Pont Neuf und die Rue de Rivoli hinab, Busse und Kutschen . . . Maler vor ihren Staffeleien in den Luxembourg-Gärten . . . Wenn alles gut wurde, mochte ich mir eines Tages einen Schatten dieser Art suchen . . . er stand auf gleicher Höhe mit meinem Avalon. Ich hatte viel vergessen . . . Die Einzelheiten . . . Die Farbtupfer, die das Leben ausmachen . . . Der Geruch der Kastanien . . .
Ausschreiten . . . Ich vollendete eine neue Schleife. Der Wind heulte, und das Unwetter brauste weiter, doch ich blieb davon unberührt. Solange ich mich davon nicht ablenken ließ, solange ich in Bewegung blieb und mich auf das Juwel konzentrierte . . . Ich mußte durchhalten, durfte nicht aufhören, meine langsamen, vorsichtigen Schritte zu machen, durfte nicht innehalten, langsamer und immer langsamer gehend, doch ständig in Bewegung . . . Gesichter . . . Es kam mir vor, als starrten Reihen von Gesichtern von außerhalb auf das Muster . . . Groß wie der Riesenkopf, doch verzerrt – grinsend, spöttelnd, mich verhöhnend, darauf wartend, daß ich innehielt oder einen falschen Schritt machte . . . Darauf wartend, daß sich meine kleine Welt auflöste . . . Hinter ihren Augen und in ihren Mündern zuckten Blitze, ihr Lachen war das Donnern . . . Schatten krochen zwischen ihnen . . . Jetzt sprachen sie zu mir, in Worten wie ein Sturm, der über einen weiten dunklen Ozean herbeitobte . . . Ich würde es nicht schaffen, redeten sie mir ein, ich würde versagen und davongeschwemmt werden, dieses Bruchstück von Muster würde hinter mir zerschmettert und aufgezehrt werden . . . Sie verfluchten mich, sie spuckten und erbrachen sich in meine Richtung, wobei ich unbehelligt blieb . . . Vielleicht waren sie in Wirklichkeit gar nicht vorhanden . . . Vielleicht hatte die Anstrengung mich den Verstand gekostet . . . Was nützten dann meine Mühen? Ein neues Muster, von einem Wahnsinnigen geformt? Ich geriet ins Schwanken, und die Wesen brüllten im Chor, mit den Stimmen der Elemente im Chor: »Verrückt! Verrückt! Verrückt!«
Ich atmete tief ein, genoß den Rest des Rosendufts und dachte erneut an Kastanien und an Tage voller Lebensfreude und organischer Ordnung. Die Stimmen schienen leiser zu werden, als meine Gedanken über die Ereignisse jenes glücklichen Jahres dahinhuschten . . . Und ich machte einen weiteren Schritt . . . Und noch einen . . . Sie hatten meine Schwächen ausgenutzt, sie spürten meine Zweifel, meine Angst, meine Erschöpfung . . . Was immer sie waren, sie nahmen, was sie erblickten, und versuchten es gegen mich zu benutzen . . . Links . . . rechts . . . Nun aber sollten sie mein Selbstvertrauen spüren und dahinschwinden, redete ich mir ein. Ich habe es bis hierher geschafft. Jetzt mache ich auch weiter. Links . . .
Sie schwollen an und umwirbelten mich und setzten ihre entmutigenden Äußerungen fort. Ich aber brachte einen weiteren Abschnitt des Bogens hinter mich und sah das Muster vor meinem inneren Auge weiter anwachsen.
Ich dachte an meine Flucht aus dem Greenwood-Krankenhaus, an den Trick, mit dem ich Flora Informationen abgeluchst hatte, an meine Begegnung mit Random, meinen Kampf mit seinen Verfolgern, unsere Rückkehr nach Amber . . . Ich dachte an unsere Flucht nach Rebma und meinen Marsch durch das umgekehrte Muster, der mir einen Großteil meines Gedächtnisses zurückbrachte . . . An Randoms Heirat und meine Rückkehr nach Amber, wo ich gegen Eric kämpfte und zu Bleys floh . . . An die nachfolgenden Kämpfe, meine Blendung, meine Gesundung, meine Flucht, meine Reise nach Lorraine und dann nach Avalon . . .
Immer schneller werdend, klapperte mein Geist die Erinnerung an die nachfolgenden Ereignisse ab. Ganelon und Lorraine . . . Die Ungeheuer des Schwarzen Kreises . . . Benedicts Arm . . . Dara . . . Die Rückkehr Brands und seine Dolchwunde . . . Meine Messerwunde . . . Bill Roth . . . Krankenhausunterlagen. Mein Unfall . . .
. . . Vom Anfang in Greenwood über all die dazwischenliegenden Ereignisse, bis hin zu diesem Kampf um jeden perfekt auszuführenden Schritt, durch diesen gewaltigen Bogen der Zeit und Erlebnisse – unabhängig davon, ob meine Handlungen dem Thron, meiner Rache oder meinem Pflichtgefühl galten – spürte ich das Anwachsen eines Gefühls der Erwartung, einer Erwartung, die die ganze Zeit bestanden hatte, bis zu diesem Augenblick, da sich schließlich noch etwas anderes hinzugesellte . . . Ich spürte, daß das Warten endlich vorbei war, daß nun bald das eintreten würde, was ich vorausgesehen und dem ich entgegengestrebt hatte.
Links . . . Sehr, sehr langsam. Nichts anderes hatte im Augenblick Bedeutung. Ich legte meine ganze Willenskraft in die Bewegungen. Meine Konzentration wurde absolut. Was immer sich außerhalb des Musters befinden mochte, ich nahm davon keine Notiz mehr. Blitze, Gesichter, Windstöße . . . Darauf kam es nicht an. Es gab nur das Juwel, das wachsende Muster und mich – und meiner selbst war ich mir dabei gar nicht bewußt. Vielleicht kam ich in diesem Augenblick Hugis Ideal von der Verschmelzung mit dem Absoluten am nächsten. Eine Drehung. Rechter Fuß . . . Wieder eine Wendung . . .
Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Der Raum war auf das Muster beschränkt, das ich mit den Füßen schuf. Ich bezog jetzt Energie aus dem Juwel, ohne sie bewußt zu rufen, als Teil des Vorgangs, der hier ablief. Auf eine Weise war ich wohl ausgelöscht. Ich verwandelte mich in einen sich bewegenden Punkt, programmiert durch das Juwel, eine Aufgabe ausführend, die mich dermaßen absorbierte, daß ich für mein eigenes Ich-Bewußtsein keine Aufmerksamkeit mehr übrig hatte. Auf einer anderen Ebene jedoch war mir klar, daß auch das zu dem hier ablaufenden Prozeß gehörte. Denn aus irgendeinem Grunde wußte ich, daß sich ein gänzlich anderes Muster ergeben würde, wenn ein anderer hier an meiner Stelle stünde.
Ich bekam nur vage mit, daß ich die Hälfte meines Weges zurückgelegt hatte. Das Vorankommen war noch mühsamer geworden, meine Bewegungen verlangsamten sich noch mehr. Trotz des Unterschieds der Geschwindigkeit fühlte ich mich irgendwie an den Augenblick erinnert, da ich auf das Juwel eingestimmt wurde, an die seltsame vieldimensionale Matrix, in der der Quell des eigentlichen Musters zu liegen scheint.
Rechts . . . Links . . .
Ich spürte keine Behinderung. Eher kam ich mir leicht vor, trotz der Behutsamkeit, die mich bannte. Grenzenlose Energie schien mich zu durchströmen. Die Geräusche ringsum waren zu einem nichtssagenden Lärm verschmolzen und dann verschwunden.
Und plötzlich schien ich gar nicht mehr langsam voranzukommen. Ich hatte nicht den Eindruck, einen Schleier oder eine sonstige Barriere überwunden zu haben, vielmehr war mir, als hätte sich eine innere Umstellung vollzogen.
Es kam mir vor, als bewege ich mich plötzlich in einem normaleren Tempo durch immer enger werdenden Schleifen auf meinem Weg zu der Stelle, die der Endpunkt des Musters sein würde. Ich war gefühlsmäßig noch weitgehend unbeteiligt, wenn ich auch mit dem Verstand wußte, daß auf einer tieferliegenden Ebene ein Freudengefühl wuchs und sich bald Bahn brechen würde. Noch ein Schritt . . . und ein weiterer . . . Vielleicht noch ein halbes Dutzend Schritte . . .
Plötzlich verdunkelte sich die Welt. Ich glaubte in einer großen Leere zu stehen, darin nur das schwache Leuchten des Juwels vor meinem Gesicht und das Schimmern des Musters, durch das ich schritt, einem Spiralnebel gleich. Ich zögerte, doch nur eine Sekunde lang. Dies mußte die letzte Anfechtung sein, der letzte Angriff. Ich mußte der Ablenkung widerstehen.