Das Juwel zeigte mir, was ich tun mußte, und das Muster zeigte mir, wo ich es zu tun hatte. Es fehlte nur eine Vision meiner selbst. Links . . .
Ich machte weiter und schenkte jeder Bewegung meine volle Aufmerksamkeit. Endlich begann sich auch eine Kraft gegen mich zu ergeben, wie ich es auf dem alten Muster oft bemerkt hatte. Aber Jahre der Erfahrung hatten mich darauf vorbereitet. Gegen die stärker werdende Barriere kämpfte ich zwei weitere Schritte heraus.
Dann sah ich im Innern des Juwels das Ende des Musters. Die plötzliche Erkenntnis seiner Schönheit hätte mir beinahe den Atem verschlagen, doch in dieser Phase unterlag sogar mein Atem dem konzentrierten Willen meines Geistes. Ich legte meine ganze Kraft in den nächsten Schritt, und die Leere ringsum schien zu beben. Ich vollendete die Bewegung, und das nächste Vorrücken war noch schwieriger. Ich hatte das Gefühl, im Mittelpunkt des Universums zu stehen, auf Sterne tretend, im wesentlichen durch Willenskraft eine unerläßliche Bewegung vollführend.
Langsam rückte mein Fuß vor, den ich allerdings nicht sehen konnte. Das Muster wurde plötzlich heller, bis es beinahe unerträglich grell funkelte.
Nur noch ein kleines Stück. Ich mühte mich verzweifelter als je zuvor auf dem alten Muster, denn der Widerstand erschien mir nun absolut zu sein. Ich mußte ihm mit einer Entschlossenheit und Beständigkeit des Willens gegenübertreten, die alles andere ausschlossen, obwohl ich nun überhaupt nicht mehr voranzukommen schien, obwohl alle meine Energien anscheinend darauf verschwendet wurden, das Muster heller scheinen zu lassen. Wenigstens würde ich vor einem prachtvollen Hintergrund untergehen . . .
Minuten, Tage, Jahre . . . Ich weiß nicht, wie lange das Ganze dauerte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als wäre ich in meiner Anstrengung schon seit Urbeginn gefangen.
Aber dann bewegte ich mich, und wie lange das dauerte, weiß ich nicht. Jedenfalls vollendete ich den Schritt und setzte zu einem neuen an. Und machte noch einen . . .
Das Universum schien rings um mich zu kreisen. Ich war durch.
Der Druck verschwand. Die Schwärze war fort . . .
Einen Augenblick lang stand ich im Mittelpunkt meines Musters. Ohne es überhaupt anzusehen, sank ich nach vorn auf die Knie und krümmte mich zusammen. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Mir schwamm es vor den Augen, und ich atmete schwer. Am ganzen Körper hatte ich zu zittern begonnen. Vage war mir bewußt, daß ich mein Ziel erreicht hatte. Mein Muster würde Bestand haben . . .
Ich hörte ein Geräusch, das es eigentlich nicht hätte geben dürfen, doch meine erschöpften Muskeln weigerten sich zu reagieren, nicht einmal im Reflex, und schon war es zu spät. Schon war mir das Juwel aus den schlaffen Fingern gerissen worden, und erst da hob ich den Kopf und ließ mich auf den Hintern plumpsen. Niemand war mir durch das Muster gefolgt – das hätte ich sicher gemerkt. Deshalb . . .
Das Licht war beinahe normal. Dagegen anblinzelnd, schaute ich in Brands lächelndes Gesicht empor. Er trug eine schwarze Augenklappe und hielt das Juwel in der Hand. Er mußte sich durch Teleportation an diesen Ort versetzt haben.
Als ich den Kopf hob, schlug er nach mir, und ich stürzte auf die linke Seite. Er trat mir brutal in den Bauch.
»Du hast es also geschafft«, sagte er. »Ich hatte nicht geglaubt, daß du dazu in der Lage wärst. Jetzt muß ich ein neues Muster vernichten, ehe ich die Dinge regeln kann. Doch zuerst brauche ich dies, um die Schlacht an den Burgen zu entscheiden.« Er schwenkte das Juwel. »Leb wohl!«
Und er verschwand.
Keuchend lag ich da und hielt mir den Bauch. Wogen der Dunkelheit stiegen auf, schwappten in mir wie eine Brandung und zogen sich wieder zurück, denn ich erlag der Ohnmacht nicht. Eine unvorstellbare Verzweiflung überschwemmte mich, und ich schloß die Augen und stöhnte. Jetzt hatte ich auch kein Juwel mehr, das mir mit seinen Energien zur Seite stand.
Die Kastanienbäume . . .
10
Ich lag schmerzerfüllt am Boden und gab mich meinen Visionen hin: Brand, der auf dem Schlachtfeld erschien, auf dem die Streitkräfte Ambers und des Chaos gegeneinander anstürmten, das pulsierende Juwel auf seiner Brust. Anscheinend genügte ihm seine Kontrolle darüber, um die Geschehnisse zu unseren Ungunsten zu beeinflussen. Ich sah, wie er Blitze gegen unsere Truppen schleuderte. Ich sah ihn mächtige Windstöße und Hagelschauer heraufbeschwören, die uns vernichtend trafen. Am liebsten hätte ich geweint. Dies alles zu einer Zeit, da er sich noch hätte läutern können, indem er sich auf unsere Seite stellte. Es genügte ihm wohl nicht mehr, einfach nur zu siegen. Er mußte diesen Sieg für sich selbst erringen und nach seinen eigenen Vorstellungen. Und ich? Ich hatte versagt. Ich hatte ein Muster gegen das Chaos errichtet, was ich mir niemals zugetraut hätte. Und doch würde meine Tat nichts bedeuten, wenn die Schlacht verloren war und Brand zurückkehrte, um das Muster auszulöschen. Meinem Ziel so nahe zu sein und dann doch einen Fehlschlag zu erleiden . . . Ich spürte den Drang, »Ungerechtigkeit« zu brüllen, obwohl ich wußte, daß sich das Universum nicht nach meinen Vorstellungen von Fairneß richtete. Ich knirschte mit den Zähnen und spuckte Dreck aus, der mir zwischen die Lippen geraten war. Mein Vater hatte mir den Auftrag gegeben, das Juwel zum Schlachtfeld zu bringen. Beinahe hätte ich es geschafft.
Plötzlich kam mir etwas seltsam vor. Etwas erforderte meine Aufmerksamkeit. Was?
Die Stille.
Der Sturm tobte nicht mehr, der Donner war verstummt. Die Luft stand still, und sie fühlte sich angenehm frisch an. Und ich wußte, daß auf der anderen Seite meiner geschlossenen Lider Licht strahlte.
Ich öffnete die Augen. Ich erblickte einen Himmel aus einem hellen, einheitlichen Weiß. Ich blinzelte und drehte den Kopf. Rechts von mir befand sich etwas . . .
Ein Baum. An der Stelle, an der ich den vom alten Ygg abgeschnittenen Stock stehengelassen hatte, befand sich ein Baum. Schon war er größer als der ursprüngliche Stab. Ich glaubte förmlich zu sehen, wie er wuchs. Und er war grün von Blättern und weiß von vereinzelten Knospen; einige Blüten hatten sich bereits geöffnet. Aus dieser Richtung trug die Brise einen schwachen, angenehmen Duft herbei, der mich irgendwie tröstete.
Ich betastete meinen Körper. Ich schien ohne Rippenbrüche davongekommen zu sein, während mein Unterleib höllisch schmerzte von dem Tritt, den ich erhalten hatte. Ich rieb mir die Augen und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Seufzend stemmte ich mich auf ein Knie hoch.
Den Kopf drehend, sah ich mich um. Das Plateau war das alte – aber auch wieder nicht. Es war noch immer kahl, doch nicht mehr abweisend und öde. Vermutlich eine Folge der Beleuchtung. Nein, es stand mehr dahinter . . .
Ich hatte meine Drehung fortgesetzt, bis ich schließlich den ganzen Horizont abgesucht hatte. Es war doch nicht derselbe Ort, an dem ich meine Wanderung durch das Muster begonnen hatte. Es gab feine wie auch grobe Unterschiede: veränderte Felsformationen, eine Senke, wo zuvor eine Erhebung gewesen war, eine andere Maserung des Gesteins unter mir und in meiner Nähe, in der Ferne so etwas wie Mutterboden. Ich stand auf und glaubte plötzlich aus unbestimmter Richtung Meeresgeruch wahrzunehmen. Diese Welt fühlte sich ganz anders an als die, in die ich geklettert war – es schien so lange her zu sein. Die Veränderungen waren zu tiefgreifend, als daß sie allein von dem Unwetter stammen konnten. Ich fühlte mich an etwas anderes erinnert.
In der Mitte des Musters stehend, setzte ich die Inspektion meiner Umgebung fort. Beinahe gegen meinen Willen schien meine Verzweiflung zu verfliegen und einem Gefühl der »Erfrischung« – ja, das schien mir irgendwie das richtige Wort zu sein – Platz zu machen. Die Luft war so sauber und süß, und die Szene wirkte irgendwie neu und unberührt auf mich. Ich . . .
Natürlich! Es war die Umgebung des Ur-Musters. Ich wandte mich dem Baum zu, der inzwischen weiter gewachsen war, und betrachtete ihn von neuem. Ähnlich – und auch wieder nicht . . . Etwas Neues lag in der Luft, im Boden, im Himmel. Dies war eine neue Welt. Ein neues Ur-Muster. Dann war alles ringsum die Folge des Musters, in dem ich stand.