Plötzlich ging mir auf, daß ich mehr empfand als nur Belebung. Es war ein Gefühl der Freude, ein Hochgefühl, das mich durchströmte. Ich befand mich an einem sauberen, frischen Ort, der irgendwie auf mich zurückging.
Die Zeit verstrich. Ich stand einfach nur da und beobachtete den Baum, ich sah mich um und genoß die Euphorie, die von mir Besitz ergriffen hatte. Hier lag auf jeden Fall eine Art Sieg – bis Brand zurückkehrte und ihn mir nahm.
Plötzlich war ich wieder ganz nüchtern. Ich mußte Brands Plan vereiteln, ich mußte diesen Ort schützen. Ich befand mich im Zentrum eines Musters. Wenn es dieselben Eigenschaften hatte wie das andere, konnte ich mich mit seiner Kraft an jeden gewünschten Ort projizieren. Mit seiner Hilfe konnte ich mich den anderen anschließen.
Ich stäubte meine Kleidung ab. Ich lockerte die Klinge in der Scheide. Die Lage war vielleicht nicht so hoffnungslos, wie sie mir eben noch erschienen war. Man hatte mir den Auftrag gegeben, das Juwel an den Schauplatz des Kampfes zu bringen. Das hatte Brand nun für mich übernommen; es würde auf jeden Fall zur Stelle sein. Ich mußte ihm nur folgen und es ihm irgendwie wieder abnehmen, um die Dinge so zu drehen, wie sie sich hätten entwickeln sollen.
Ich sah mich um. Ich würde ein andermal hierher zurückkehren müssen, um diese neue Situation genau zu ergründen – aber nur, wenn ich die kommenden Ereignisse überlebte. Irgendwo lag hier ein Rätsel. Es hing in der Luft, es bewegte sich mit der Brise. Es mochte viele Zeitalter dauern, das aufzuklären, was sich hier ereignet hatte, als ich das neue Muster zeichnete.
Ich grüßte den Baum. Wie zur Antwort schien er die Äste zu bewegen. Ich schob meine Rose zurecht und drückte sie wieder in Form. Es wurde Zeit, den Weg fortzusetzen. Ich hatte etwas zu erledigen. Ich senkte den Kopf und schloß die Augen. Ich versuchte mir die Beschaffenheit des Landes vor dem letzten Abgrund an den Burgen des Chaos vorzustellen. Ich betrachtete die Szene unter dem wirbelnden Himmel und bevölkerte sie mit meinen Verwandten und mit Truppen. Ich glaubte dabei leise Kampfgeräusche wahrzunehmen. Die Szene vertiefte sich, wurde klarer. Ich hielt die Vision noch einen Augenblick lang fest, gab dann dem Muster den Impuls, mich dorthin zu tragen.
. . . Gleich darauf schien ich auf einem Hügel über einer Ebene zu stehen. Ein kalter Wind wehte meinen Mantel zur Seite. Der Himmel zeigte sich als das verrückte, kreisende, punktierte Durcheinander, das ich noch von meinem ersten Besuch in Erinnerung hatte – halb schwarz, halb gefüllt mit psychedelisch zuckenden Regenbogenfarben. Unangenehme Dämpfe verpesteten die Luft. Die schwarze Straße erstreckte sich zur Linken; sie überquerte die Ebene und führte darüber hinaus und über den Abgrund zu der schwarzen Zitadelle, die von zuckenden Glühwürmchenlichtern umgeben war. Durchscheinend wirkende Brücken schwebten in der Luft, aus den Tiefen der Dunkelheit heranreichend, und absonderliche Gestalten bewegten sich darauf wie auch auf der schwarzen Straße. Auf dem Terrain unter mir schien sich die größte Zusammenballung von Truppen zu befinden, die es je gab. Hinter mir hörte ich etwas. Ich wandte mich in die Richtung, die Norden sein mußte – immerhin hatte ich seinen Kurs schon mehrfach berechnet – und gewahrte den bekannten Teufelssturm, der durch die fernen Berge näherrückte, blitzend und grollend, sich herbeiwälzend wie ein himmelshoher Gletscher.
Ich hatte diese Erscheinung mit der Schaffung eines neuen Musters also nicht zum Stillstand gebracht. Anscheinend hatte sie mein geschütztes Gebiet einfach umgangen und würde sich weiterwälzen, bis sie ihr Ziel erreichte oder ins Leere stieß. Ihr auf dem Fuße folgten hoffentlich recht starke konstruktive Impulse, die sich bereits von dem neuen Muster ausbreiten müßten, mit der Wiedereinführung der Ordnung in allen Schattenwelten. Ich fragte mich, wie lange das Unwetter noch brauchen würde, bis es uns erreichte.
Plötzlich hörte ich Hufschlag, zog meine Klinge und drehte mich um . . .
Ein gehörnter Reiter stürmte auf einem großen schwarzen Pferd in meine Richtung. In seinen Augen schienen Flammen zu züngeln.
Ich korrigierte meine Haltung und wartete ab. Er schien von einer der durchsichtigen Straßen herabgestiegen zu sein, die in meine Richtung trieben. Beide befanden wir uns abseits des allgemeinen Geschehens. Ich sah zu, wie er den Hügel heraufritt. Ein gutes Pferd. Eine schöne breite Brust. Wo, zum Teufel, steckte Brand? Ich war im Augenblick nicht auf einen Kampf scharf.
Ich beobachtete den Reiter und die gekrümmte Klinge in seiner rechten Hand. Als er Anstalten machte, mich niederzureiten, sprang ich zur Seite. Als er ausholte, war ich mit einem Parierschlag zur Stelle, der seinen Arm in meine Reichweite brachte. Ich packte ihn und zerrte ihn von seinem Tier.
»Die Rose da . . .«, sagte er im Fallen. Ich weiß nicht, was er sonst noch sagen wollte, weil ich ihm die Kehle durchschnitt und seine Worte und alles andere an ihm mit dem heftigen Schnitt zu Ende gingen.
Ich fuhr herum, hielt Grayswandir zur Seite, rannte los und packte die Zügel des schwarzen Tiers. Dann redete ich beruhigend auf den Hengst ein und führte ihn von den Flammen fort. Nach einigen Minuten hatten wir uns kennengelernt, und ich stieg in den Sattel.
Er war sehr unruhig, doch ich ließ ihn zuerst nur ungezwungen auf dem Hügelkamm entlanggehen, während ich meine Beobachtungen fortsetzte. Die Streitkräfte Ambers schienen in der Offensive zu sein. Überall auf dem Schlachtfeld lagen qualmende Leichen. Die Hauptstreitmacht des Gegners hatte sich auf eine Anhöhe nahe dem großen Abgrund zurückgezogen. Ihre Reihen, bedrängt, aber noch nicht aufgelöst, bewegten sich in geordnetem Rückzug langsam darauf zu. Von der anderen Seite kamen dagegen weitere Kämpfer über den Abgrund und schlossen sich den Kämpfenden an, die die Anhöhe hielten. In Anbetracht der zunehmenden Kampfkraft und der günstigen Position ging ich davon aus, daß dort ein Gegenangriff vorbereitet wurde. Brand war nicht zu sehen.
Selbst wenn ich ausgeruht und in Rüstung gewesen wäre, hätte ich es mir zweimal überlegt, ehe ich dort hinabgeritten wäre, um an dem Kampf teilzunehmen. Meine Aufgabe war es zunächst, Brand ausfindig zu machen. Ich nahm nicht an, daß er direkt in den Kampf eingreifen würde. So suchte ich die Randzonen der eigentlichen Scharmützel ab, Ausschau haltend nach einer einsamen Gestalt. Nein . . . Vielleicht auf der anderen Seite des Schlachtfelds. Ich würde zum Norden hinüberreiten müssen. In Richtung Westen war mir der Blick von hier aus zu sehr verwehrt.
Ich zog das Tier herum und lenkte es den Hügel hinab. Dabei überlegte ich mir, daß es sehr angenehm wäre, mich jetzt zum Schlafen niederzulegen. Einfach vom Pferd fallen und schlafen. Ich seufzte. Wo steckte Brand nur?
Ich erreichte den Fuß des Hügels und wechselte die Richtung, um durch einen Felsgraben zu reiten. Ich mußte einen besseren Beobachtungsstandpunkt finden . . .
»Lord Corwin von Amber!«
Ich kam um eine Biegung der Senke und sah ihn vor mir, einen großen leichenblassen Burschen mit rotem Haar und einem fahlen Pferd. Er trug eine kupferschimmernde Rüstung mit grünlichen Markierungen und saß starr wie ein Denkmal im Sattel.
»Ich habe dich auf dem Hügel gesehen«, stellte er fest. »Du trägst keinen Panzer, oder?«
Ich schlug mir vor die Brust.
Er nickte energisch. Dann hob er die Hand, zuerst an die linke Schulter, dann an die rechte, dann nestelte er unter seinen Armen an den Halterungen des Brust- und Rückenschildes. Als er sie gelöst hatte, nahm er die Rüstung ab und senkte sie auf der linken Seite zu Boden. Auf gleiche Weise verfuhr er mit seinen Beinschützern.
»Ich wollte dich schon lange einmal kennenlernen«, sagte er. »Ich bin Borel. Es soll von mir nicht gesagt werden, daß ich dich auf unfaire Weise übervorteilt hätte, wenn ich dich jetzt töten muß.«