Als ich mich dem Kamm der Anhöhe näherte, hinter der sich das schwarze Panorama des Chaos erstreckte, hörte ich Stimmen. Noch war nicht zu verstehen, was diese Stimmen sagten, doch sie klangen erregt.
Ich ging langsamer, duckte mich und starrte um einen Felsvorsprung.
Dicht vor mir stand Random; in seiner Begleitung waren Fiona und die Lords Chantris und Feldane. Bis auf Fiona hielten alle Waffen in die Höhe, als wären sie bereit, sie einzusetzen; allerdings machte niemand eine Bewegung. Sie starrten zum Abgrund aller Dinge hinüber, einem Felsvorsprung, der ein wenig höher lag und etwa fünfzehn Meter entfernt war – der Rand des Abgrunds.
Brand stand an dieser Stelle, und er hielt Deirdre an sich gepreßt. Den Helm hatte sie verloren, und ihr Haar wehte heftig im Wind, und er hatte ihr den Dolch an die Kehle gesetzt. Anscheinend hatte er ihr schon die Haut geritzt. Ich zog den Kopf wieder zurück.
Ich hörte Random leise fragen: »Kannst du wirklich nichts weiter tun, Fiona?«
»Ich kann ihn dort festhalten«, antwortete sie, »und auf diese Entfernung auch seine Kontrolle über das Wetter einschränken. Aber mehr nicht. Er ist in gewisser Weise auf das Juwel eingestimmt, ich aber nicht. Außerdem wirkt sich die größere Nähe zu seinen Gunsten aus. Alles, was ich sonst noch versuchen könnte, würde er abschmettern.«
Random biß sich auf die Unterlippe.
»Senkt eure Waffen!« rief Brand. »Sofort, oder Deirdre lebt nicht mehr.«
»Töte sie doch!« sagte Random. »Dann verlierst du das einzige Pfand, das dich noch am Leben erhält. Tu es, und ich zeige dir, was ich mit meiner Waffe mache!«
Brand murmelte etwas vor sich hin.
»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich fange damit an, daß ich sie zerstückele.«
Random spuckte aus. »Dann tu´s doch!« forderte er. »Sie kann ihren Körper erneuern wie jeder von uns. Denk dir eine Drohung aus, die wirklich etwas bedeutet, oder halt den Mund und steh deinen Mann!«
Brand schwieg. Ich hielt es für besser, meine Ankunft weiterhin zu verheimlichen. Sicher konnte ich etwas tun. Ich wagte einen zweiten Blick und prägte mir im Geiste das Terrain ein, ehe ich mich wieder zurückzog. Links befanden sich einige Felsen, aber sie reichten nicht weit genug heran. Ich sah keine Möglichkeit, Brand anzuschleichen.
»Ich glaube, wir müssen alles auf eine Karte setzen und ihn angreifen«, hörte ich Random sagen. »Ich sehe keine andere Möglichkeit. Du vielleicht?«
Ehe jemand antworten konnte, geschah etwas Seltsames. Der Tag wurde heller.
Ich sah mich nach der Ursache der Helligkeit um, schaute schließlich zum Himmel empor.
Die Wolken waren unverändert vorhanden, und dahinter trieb der verrückte Himmel seine Kapriolen. Die Helligkeit lag jedoch in den Wolken. Sie waren bleicher geworden und begannen nun zu glühen, als verdeckten sie eine weitere Sonne. Während ich noch hinschaute, verstärkte sich der Beleuchtungseffekt noch mehr.
»Was führt er jetzt im Schilde?« fragte Chantris.
»Keine Ahnung«, antwortete Fiona. »Aber ich glaube nicht, daß er dahintersteckt.«
»Wer dann?«
Eine Antwort bekam ich nicht mit.
Ich sah die Wolken heller werden. Die größte und hellste schien plötzlich zu wirbeln, als rühre jemand darin. Formen zuckten darin herum, arrangierten sich. Ein Umriß begann Gestalt anzunehmen.
Die Kampfgeräusche auf dem Schlachtfeld unter uns verstummten. In dem Maße, wie die Vision anwuchs, wurde das Unwetter gedämpft. In dem grellen Lichtfeld über unseren Köpfen formierte sich etwas – es entstanden die Züge eines riesigen Gesichts.
»Ich weiß es nicht, das mußt du mir glauben!« hörte ich Fiona auf eine gemurmelte Frage antworten.
Noch ehe die Formbildung abgeschlossen war, erkannte ich das Gesicht meines Vaters am Himmel. Ein hübscher Trick. Und ich hatte auch keine Ahnung, was das sollte.
Das Gesicht bewegte sich, als betrachte es uns alle. Spuren der Anspannung waren auszumachen, und auch ein Anflug von Sorge im Ausdruck. Die Helligkeit verstärkte sich noch ein wenig. Die Lippen begannen sich zu bewegen.
Die Stimme ertönte – seltsamerweise in ganz normalem Gesprächston und nicht mit der hallenden Lautstärke, die ich erwartet hatte.
»Ich schicke euch diese Botschaft«, sagte er, »ehe ich den Versuch beginne, das Muster instandzusetzen. Wenn ihr dies hört, habe ich bereits Erfolg gehabt oder bin gescheitert. Sie wird euch vor der Woge des Chaos erreichen, die mein Bemühen begleiten muß. Ich habe Gründe für die Annahme, daß der Versuch meinen Tod bedeutet.«
Sein Blick schien das Schlachtfeld abzusuchen.
»Triumphiert oder trauert, wie es euch gefällt«, fuhr die Stimme fort, »denn dies ist entweder der Anfang oder das Ende. Sobald ich keine Verwendung mehr dafür habe, werde ich das Juwel des Geschicks zu Corwin senden. Ich habe ihn beauftragt, es an den Ort der Auseinandersetzung zu bringen. Alle eure Mühen dort werden nichts fruchten, wenn die Woge des Chaos nicht aufgehalten werden kann. Mit dem Juwel an jenem Ort müßte Corwin in der Lage sein, euch zu erhalten, bis die Erscheinung vorübergewogt ist.«
Ich hörte Brands Lachen. Es hörte sich an, als habe er völlig den Verstand verloren.
»Mit meinem Tod«, sprach die Stimme weiter, »wird sich für euch von neuem die Frage der Nachfolge erheben. Ich hatte in dieser Beziehung meine Vorstellungen, aber ich weiß inzwischen, daß sie nicht zu realisieren sind. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als dies dem Horn des Einhorns zu überlassen.
Meine Kinder, ich kann nicht behaupten, daß ich mit euch ganz zufrieden bin, aber das läßt sich vermutlich auch aus eurer Sicht mir gegenüber sagen. Lassen wir das! Ich verlasse euch mit meinem Segen, und das ist mehr als eine Formalität. Ich werde jetzt das Muster beschreiten. Lebt wohl!«
Daraufhin begann das Gesicht zu verblassen, und die Helligkeit schwand aus den Wolken. Wenig später war sie verschwunden. Eine seltsame Stille lag über dem Schlachtfeld.
». . . und wie ihr sehen könnt«, hörte ich Brand verkünden, »hat Corwin das Juwel nicht. Werft die Waffen fort und verschwindet von hier! Oder behaltet sie und verzieht euch! Es ist mir gleich. Laßt mich allein! Ich habe zu tun.«
»Brand«, sagte Fiona, »kannst du erreichen, was er sich von Corwin vorgestellt hat? Kannst du das Juwel so einsetzen, daß die Erscheinung an uns vorbeigeht?«
»Wenn ich wollte, könnte ich das tun«, antwortete er. »Ja, ich könnte die Woge des Chaos umlenken.«
»Wenn du das tust, wirst du ein Held sein«, sagte sie leise. »Du hättest dir unsere Dankbarkeit verdient. Alle Fehler der Vergangenheit wären verziehen. Verziehen und vergessen. Wir . . .«
Er begann schallend zu lachen. »Ihr vergebt mir?« fragte er. »Ihr, die ihr mich in den Turm geworfen habt, die ihr mir die Messerwunde beibrachtet? Vielen Dank, Schwester. Sehr nett von dir, mir verzeihen zu wollen, aber du wirst Verständnis haben, wenn ich das ablehne.«
»Also schön«, schaltete sich Random ein. »Was willst du denn? Sollen wir uns entschuldigen? Steht dir der Sinn nach Reichtum und Schätzen? Nach einem wichtigen Posten? Nach all diesen Dingen? Sie sollen dir gehören! Aber das Spiel, das du mit uns treibst, ist sinnlos. Machen wir Schluß damit, gehen wir nach Hause und tun wir so, als wäre alles ein schlimmer Traum gewesen.«
»Ja, machen wir Schluß«, erwiderte Brand. »Indem ihr eure Waffen hinwerft. Dann entläßt mich Fiona aus ihrem Bann, und ihr alle macht kehrt und marschiert nach Norden. Entweder das, oder ich bringe Deirdre um.«
»Darauf kann ich nur sagen, daß du sie lieber töten und dich bereithalten solltest, die Sache mit mir auszukämpfen«, gab er zurück, »denn in Kürze sind wir sowieso tot, wenn wir dich gewähren lassen. Wir alle.«
Brand kicherte.
»Glaubst du wirklich, ich lasse euch sterben? Ich brauche euch – so viele wie ich nur retten kann. Hoffentlich auch Deirdre. Ihr seid immerhin die einzigen, die meinen Triumph wirklich zu schätzen wüßten. Ich werde euch vor dem Vernichtungssturm bewahren, der unmittelbar bevorsteht.«