»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte Random.
»Dann solltest du dir die Zeit nehmen, einmal darüber nachzudenken. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß ich es euch zeigen will. Ich will euch als Zeugen für meine Tat haben. In diesem Sinne brauche ich eure Anwesenheit in meiner neuen Welt. Und jetzt verschwindet von hier!«
»Du bekommst alles, was du willst – und unsere Dankbarkeit«, setzte Fiona an. »Wenn du nur . . .«
»Geht!« schrie er.
Ich wußte, ich durfte nicht länger zögern. Ich mußte meinen Zug machen. Zugleich war mir klar, daß ich nicht rechtzeitig an ihn herankommen konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Juwel als Waffe gegen ihn einzusetzen.
Ich schickte meinen Geist auf die Reise und spürte die Gegenwart des Steins. Ich schloß die Augen und rief meine Kräfte an.
Heiß. Heiß, dachte ich. Das Juwel verbrennt dich, Brand! Es führt dazu, daß jedes Molekül in deinem Körper immer schneller vibriert. Du stehst im Begriff, zu einer menschlichen Fackel zu werden . . .
Ich hörte ihn aufschreien.
»Corwin!« brüllte er. »Hör auf damit! Wo immer du bist! Ich bringe sie um! Schau!«
Ohne in meinem Auftrag an das Juwel nachzulassen, stand ich auf. Ich starrte ihn an. Seine Kleidung begann zu qualmen.
»Hör auf!« brüllte er, hob das Messer und fuhr Deirdre damit durch das Gesicht.
Ich schrie auf, und Tränen schossen mir in die Augen. Ich verlor die Kontrolle über das Juwel. Doch Deirdre, deren linke Wange zu bluten begann, biß Brand in die Hand, die sich zu einem zweiten Stich senkte. Im nächsten Augenblick hatte sie den Arm frei, stieß ihm den Ellbogen in die Rippen und versuchte, von ihm freizugekommen.
Kaum hatte sie sich bewegt, kaum hatte sich ihr Kopf gesenkt, sah man ein silbriges Aufblitzen. Brand keuchte und ließ den Dolch fallen. In seinem Hals steckte ein Pfeil. Gleich darauf folgte ein zweiter und ragte ihm dicht neben dem Juwel aus der Brust.
Er machte einen Schritt zurück und stieß ein Gurgeln aus. Nur hatte er hier am Rande des Abgrunds keinen Bewegungsraum mehr.
Er riß die Augen auf und begann zur Seite zu sinken. Im nächsten Augenblick zuckte seine rechte Hand vor und packte Deirdres Haar. Ich war bereits brüllend losgelaufen, wußte aber, daß ich zu spät kommen mußte.
Deirdre heulte auf, Entsetzen auf dem blutigen Gesicht. Sie streckte mir die Arme hin . . .
Im nächsten Augenblick waren Brand, Deirdre und das Juwel über den Rand gekippt, stürzten in die Tiefe, waren verschwunden . . .
Ich glaube, ich wollte mich hinter ihnen herstürzen, doch Random hielt mich fest. Dann mußte er mich sogar niederschlagen, und die Welt versank.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf steinigem Grund, ein gutes Stück von der Stelle entfernt, an der ich umgesunken war. Jemand hatte mir meinen zusammengefalteten Mantel als Kissen unter den Kopf gelegt. Als erstes gewahrte ich den kreisenden Himmel, der mich irgendwie an den Traum mit dem Rad denken ließ, den ich am Tage meiner ersten Begegnung mit Dara gehabt hatte. Ich spürte die anderen ringsum und hörte ihre Stimmen, bewegte den Kopf aber noch nicht. Ich lag nur reglos da und betrachtete das Mandala am Himmel und dachte an den Verlust, den ich erlitten hatte. Deirdre . . . sie hatte mir mehr bedeutet als alle anderen Verwandten zusammen. Ich kann nichts dagegen tun. So war es nun mal. Wie oft hatte ich gewünscht, sie wäre nicht meine Schwester! Doch hatte ich mich mit der Realität unserer Situation abgefunden. Meine Gefühle würden sich niemals verändern, nur . . . gab es sie jetzt nicht mehr, und dieser Gedanke bedrückte mich mehr als die drohende Vernichtung der Welt.
Trotzdem mußte ich sehen, was jetzt geschah. Nachdem das Juwel nun außer Reichweite war, mußte alles vorbei sein. Trotzdem . . . ich schickte meinen Geist aus, versuchte seine Gegenwart zu erspüren, wo immer es sich auch befinden mochte, doch es kam keine Reaktion. Daraufhin richtete ich mich auf, um zu sehen, wie weit die Woge vorgerückt war, doch ein Arm drückte mich zurück.
»Ruh dich aus, Corwin!« ertönte Randoms Stimme. »Du bist am Ende. Du siehst aus, als wärst du gerade durch die Hölle gekrochen. Du kannst nichts mehr tun. Laß es gut sein!«
»Was für einen Unterschied macht mein Gesundheitszustand noch?« erwiderte ich. »Bald kommt es nicht mehr darauf an.«
Wieder wollte ich aufstehen, und diesmal stützte mich der Arm und half mir dabei.
»Na schön«, sagte er. »Es gibt aber nicht viel Lohnenswertes zu sehen.«
Damit hatte er wohl recht. Die Schlacht schien vorbei zu sein, bis auf einige vereinzelte Widerstandsnester des Gegners, die bereits umzingelt und niedergekämpft wurden, wo bei sich alles allmählich in unsere Richtung bewegte, zurückweichend vor der herbeiwogenden Front, die bereits die andere Seite des Schlachtfeldes erreicht hatte. In Kürze würden sich auf unserer Anhöhe die Überlebenden beider Seiten drängen. Ich schaute hinter uns. Von der düsteren Zitadelle kam keine Verstärkung mehr. Konnten wir uns an jenen Ort zurückziehen, wenn das Chaos uns schließlich erreichte? Und dann was? Der Abgrund schien der letzte Ausweg zu sein. »Bald«, murmelte ich und dachte an Deirdre. »Bald.« Warum auch nicht?
Ich beobachtete die Unwetterfront, die quirlte und kochte und Blitze aussandte. Ja, bald. Nachdem das Juwel mit Brand untergegangen war . . .
»Brand . . .«, sagte ich. »Wer hat ihn da vorhin erwischt?«
»Diese Ehre beanspruche ich«, sagte eine mir bekannte Stimme, die ich aber nicht unterbringen konnte.
Ich wandte den Kopf. Der Mann in Grün saß auf einem Felsen, Pfeil und Bogen neben sich auf dem Boden. Er musterte mich mit einem bösen Lächeln.
Es war Caine.
»Da soll mich doch . . .!« sagte ich und rieb mir das Kinn. »Ich hatte da ein seltsames Erlebnis auf dem Weg zu deiner Beerdigung.«
»Ja. Ich habe davon gehört.« Er lachte. »Hast du dich schon mal selbst umgebracht, Corwin?«
»Letzthin nicht. Wie hast du das fertiggebracht?«
»Ich bin in den entsprechenden Schatten eingedrungen«, sagte er, »und habe den dortigen Schatten meiner selbst in einen Hinterhalt gelockt. Der lieferte mir die Leiche.« Er erschauderte. »Ein unheimliches Gefühl, das kann ich dir sagen! So etwas möchte ich nicht noch einmal durchmachen.«
»Aber warum?« wollte ich wissen. »Warum hast du deinen Tod vorgetäuscht und mir zur Last legen lassen?«
»Ich wollte an die Wurzeln der Probleme in Amber«, sagte er, »und damit ein für allemal aufräumen. Der beste Weg dorthin schien mir die Arbeit aus dem Untergrund zu sein. Und wie hätte ich euch nachhaltiger davon überzeugen können, daß ich wirklich tot war? Wie ihr seht, habe ich mein Ziel nun doch noch erreicht.« Er hielt inne. »Die Sache mit Deirdre tut mir allerdings leid. Aber ich hatte keine andere Wahl. Es war unsere letzte Chance. Ich hatte nicht geglaubt, daß er sie mit sich in den Tod reißen würde.«
Ich wandte den Blick ab.
»Ich hatte keine andere Wahl«, wiederholte er. »Ich hoffe, das siehst du ein.«
Ich nickte. »Aber warum hast du es so aussehen lassen, als hätte ich dich umgebracht?« wollte ich wissen.
In diesem Augenblick traf Fiona in Bleys Begleitung ein. Ich begrüßte beide und wandte mich dann wieder Caine zu, der mir noch eine Antwort schuldig war. Auch von Bleys wollte ich Auskünfte haben, die mir aber nicht so sehr unter den Nägeln brannten.
»Also?« fragte ich.
»Ich wollte dich ausschalten«, entgegnete er. »Ich dachte noch immer, du könntest der Drahtzieher hinter allem sein. Du oder Brand. Auf diese beiden hatte ich die Sache schon eingeengt. Ich nahm sogar an, daß ihr beide vielleicht gemeinsame Sache machtet – besonders, wo er sich solche Mühe gab, dich zurückzuholen.«
»Das hast du nicht richtig gesehen«, schaltete sich Bleys ein. »Brand versuchte ihn fernzuhalten. Er hatte erfahren, daß er die Erinnerung wiederfand, und . . .«
»Das weiß ich heute«, sagte Caine. »Aber damals stellte sich die Sache anders dar. Ich wollte Corwin also wieder in einem Verlies wissen, während ich nach Brand suchte. Anschließend behielt ich den Kopf unten und hörte mir alles an, was durch die Trümpfe gesagt und getan wurde und hoffte auf einen Hinweis, der mir Brands Aufenthaltsort verraten hätte.«