Die Rotation des Himmels schien mehr Dunkelheit über uns zu bringen. Links von mir ertönten Stimmen. Es kam mir vor, als sprächen sie schon lange, die Worte hatte ich allerdings nicht verstanden. Ich erkannte, daß ich am ganzen Leib zitterte, daß mir sämtliche Muskeln wehtaten, daß ich kaum noch zu stehen vermochte.
»Komm, leg dich hin«, sagte Fiona. »Die Familie ist für heute genug geschrumpft.«
Ich ließ mich von ihr vom Abgrund fortführen.
»Würde es wirklich noch einen Unterschied machen?« fragte ich. »Wie lange haben wir denn deiner Meinung nach noch?«
»Wir brauchen nicht hierzubleiben und darauf zu warten«, antwortete sie. »Wir werden die dunkle Brücke zu den Burgen des Chaos überqueren. Die Verteidigungslinien unserer Feinde sind bereits durchbrochen. Vielleicht dringt das Unwetter nicht so weit vor. Vielleicht wird es vom großen Abgrund aufgehalten. Es wäre sowieso angemessen, wenn wir Vater auf seinem letzten Weg begleiteten.«
Ich nickte. »Es sieht so aus, als bliebe uns kaum eine andere Wahl, als bis zum Schluß unsere Pflicht zu tun.«
Ich setzte mich vorsichtig und seufzte. Wenn das überhaupt möglich war, fühlte ich mich noch schwächer.
»Deine Stiefel . . .«, sagte sie.
»Ja.«
Sie zog sie mir von den Füßen, die zu schmerzen begonnen hatten.
»Vielen Dank.«
»Ich besorge dir etwas zu essen.«
Ich schloß die Augen. Ich begann zu dösen. Zu viele Bilder zuckten mir durch den Kopf, als daß sich ein zusammenhängender Traum ergab. Wie lange dies dauerte, weiß ich nicht, doch ein alter Reflex holte mich beim Klang näherkommenden Hufschlags ins Bewußtsein zurück. Ein Schatten glitt über meine Lider.
Ich hob den Blick und entdeckte einen verhüllten Reiter, reglos, stumm. Er musterte mich.
Ich erwiderte den Blick. Keine drohende Bewegung war gemacht worden, doch in dem kalten Blick lag Ablehnung.
»Dort liegt der Held«, sagte eine leise Stimme.
Ich schwieg.
»Ich könnte dich mühelos umbringen.«
Da erkannte ich die Stimme, wenn ich auch keine Vorstellung hatte von den Ursachen für die Ablehnung.
»Ich habe Borel gefunden, ehe er starb«, sagte sie. »Er erzählte mir, wie unehrenhaft du ihn besiegt hast.«
Ich konnte nicht anders, ich hatte keine Kontrolle darüber. Ein trockenes Lachen stieg in meiner Kehle auf. Was für eine lächerliche Kleinigkeit, um sich darüber aufzuregen! Ich hätte ihr sagen können, daß Borel viel besser ausgerüstet und ausgeruhter gewesen war als ich und daß er mir den Kampf förmlich aufgezwungen hatte. Ich hätte ihr klarmachen können, daß ich keine Regeln gelten lasse, wenn mein Leben in Gefahr ist, oder daß ich den Krieg nicht für ein Spiel halte. Ich hätte vieles sagen können, doch wenn sie das nicht bereits wußte oder nicht verstehen wollte, konnten meine Äußerungen auch nichts mehr ändern. Außerdem waren ihre Gefühle klar.
So äußerte ich nur eine schlichte, große Wahrheit: »Im allgemeinen hat jede Geschichte mehr als eine Seite.«
»Ich begnüge mich mit der, die ich kenne«, gab sie zurück.
Am liebsten hätte ich die Achseln gezuckt, doch meine Schultern schmerzten zu sehr.
»Du hast mich zwei der wichtigsten Personen meines Lebens gekostet«, sagte sie nun.
»Ach?« gab ich zurück. »Das tut mir leid, deinetwegen.«
»Du bist nicht der, als der du mir dargestellt wurdest. Ich habe in dir eine wahrhaft edle Gestalt gesehen, stark, doch zugleich verständnisvoll und zuweilen voller Rücksicht. Ehrenvoll . . .«
Das Unwetter, das immer näher kam, tobte hinter ihr. Ich dachte an etwas Vulgäres und sprach es aus. Sie ging darüber hinweg, als hätte sie meine Worte nicht gehört.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Ich kehre zu meinen Leuten zurück. Bisher habt ihr den Kampf gewonnen – aber in jener Richtung hat einmal Amber gelegen«. Sie deutete auf das Unwetter. Ich konnte sie nur anstarren. Nicht die tobenden Elemente. Sie. »Ich glaube nicht, daß von meinen neuen Bindungen noch viel übrig ist, das ich widerrufen müßte«, fuhr sie fort.
»Und was ist mit Benedict?« fragte ich.
»Nicht . . .«, sagte sie und wandte sich ab. Ein kurzes Schweigen trat ein. Dann fuhr sie fort: »Ich glaube nicht, daß wir uns noch einmal wiedersehen.« Ihr Pferd trug sie nach links davon, in die Richtung zur schwarzen Straße.
Ein Zyniker hätte zu dem Schluß gelangen können, daß sie sich nun auf die Seite derjenigen schlug, die in ihren Augen als die Sieger dastanden, da die Burgen des Chaos das Kommende wohl überstehen würden. Aber ich wußte es nicht. Ich konnte nur an das Bild denken, das ich wahrgenommen hatte, als sie ihre Armbewegung machte. Die Kapuze war zur Seite geglitten, und ich hatte einen Blick auf das werfen können, was sie geworden war. Das Gesicht in den Schatten war nicht mehr menschlich gewesen. Doch ich wandte den Kopf und folgte ihr mit den Blicken, bis sie verschwunden war. Nachdem Deirdre und Brand und Vater nicht mehr am Leben waren und nach der Trennung von Dara – in dieser Stimmung kam mir die Welt viel leerer vor, das wenige, das davon noch übrig war.
Ich lehnte mich seufzend zurück. Warum sollte ich nicht einfach hierbleiben, wenn die anderen weiterritten, und darauf warten, daß der Sturm über mich dahinfuhr, und mich auflöste, während ich noch schlief? Ich mußte an Hugi denken. Hatte ich nicht nur sein Fleisch in mich aufgenommen, sondern auch seine Flucht vor dem Leben? Ich war so erschöpft, daß mir dieser Ausweg als der leichteste vorkam . . .
»Hier, Corwin.«
Wieder war ich entschlummert, wenn auch nur für kurze Zeit. Fiona hockte neben mir, Eßrationen und eine Flasche in der Hand. Jemand war bei ihr.
»Ich wollte deine Audienz nicht stören«, sagte sie, »und habe gewartet.«
»Du hast mitgehört?« fragte ich.
»Nein, aber ich kann mir ausmalen, wie es gewesen ist, denn sie ist fort. Hier.«
Ich trank Wein und wandte meine Aufmerksamkeit dem Fleisch und Brot zu. Trotz meines seelischen Zustands schmeckte alles sehr gut.
»Wir müssen bald los«, sagte Fiona und warf einen Blick auf die tobende Unwetterfront. »Kannst du reiten?«
»Ich glaube schon«, antwortete ich.
Wieder trank ich von dem Wein.
»Aber es ist viel zuviel geschehen, Fiona«, fuhr ich fort. »Mein Gefühl ist wie betäubt. Ich bin aus einem Sanatorium in einer Schattenwelt ausgebrochen. Ich habe Menschen übertölpelt und umgebracht. Ich habe mir Vorteile ausgerechnet und erkämpft. Ich errang mein Gedächtnis wieder und habe seither versucht, mein Leben wieder auf eine vernünftige Grundlage zu stellen. Ich habe meine Familie gefunden und festgestellt, daß ich sie liebe. Ich habe mich mit Vater versöhnt. Ich habe um das Königreich gekämpft. Ich habe mich bis zum Letzten verausgabt, um die Dinge zusammenzuhalten. Und jetzt sieht es so aus, als habe das alles nichts genützt, und meine Kraft reicht nicht mehr, um darüber traurig zu sein. Ich bin völlig gefühllos geworden. Verzeih mir.«
Sie küßte mich.
»Noch sind wir nicht besiegt. Du wirst zu dir selbst zurückfinden.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es ist wie im letzten Kapitel von Alice im Wunderland«, sagte ich. »Wenn ich rufe: ›Ihr seid doch nur ein Kartenspiel!‹, dann wirbeln wir alle in die Luft, ein Packen gemalter Motive. Ich begleite euch nicht. Laßt mich hier zurück. Ich bin sowieso nur der Joker.«
»In diesem Augenblick bin ich stärker als du«, widersprach sie. »Du kommst mit!«
»Das ist nicht fair«, sagte ich leise.
»Iß zu Ende«, sagte sie. »Wir haben noch ein wenig Zeit.«
Als ich ihrer Aufforderung nachkam, fuhr sie fort: »Dein Sohn Merlin möchte dich gern sprechen. Ich würde ihn gern heraufrufen.«
»Als Gefangenen?«
»Eigentlich nicht. Er hat am Kampf nicht teilgenommen. Er traf lediglich vor kurzem ein und wollte dich sehen.«
Ich nickte, und sie entfernte sich. Ich legte die Nahrung fort und sprach noch einmal dem Wein zu. Plötzlich war ich nervös. Was sagt man einem erwachsenen Sohn, wenn man erst kürzlich erfahren hat, daß es ihn überhaupt gibt? Ich fragte mich, welche Gefühle er mir entgegenbringen würde. Und ob er von Daras Entscheidung wußte. Wie sollte ich mich ihm gegenüber verhalten?